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Ausnahmezustand und Normalität Die Wucht der Ereignisse drückt den Stadt-Fotografen noch heute nieder. Von heute auf morgen war der junge Mann allein. Ein Albtraum. Eine Katastrophe, in der unglaublich viele Menschen gefangen waren. Doch das Leben ging weiter. „Wir mussten alles erarbeiten, wir haben uns gegenseitig geholfen“, sagt der 87-Jährige, dessen Frau Gretel ihm gegenübersitzt und nickt. 63 Jahre sind die beiden verheiratet. „Ich habe Gretel schon an den langen blonden Zöpfen gezogen, da war sie erst fünf Jahre alt“, schmunzelt ihr Mann. Die beiden lebten einst behütet in Kassels Altstadt, spielten zusammen vor der Martinskirche. Dann kam der Krieg. Hans wurde Bergungstaucher, Gretel blieb zurück. Der Freund aus Kindertagen hatte keine Ahnung, wo sie und ihre Familie waren. Aufbau und Miteinander Später stellte sich heraus: Gretel hatte die Bombennacht in einem Luftschutzkeller „Bärenkammer“ überlebt. Dorthin hatte sich die junge Frau geflüchtet. Wurde verschüttet. Von 100 Menschen, die im „Bärenkammer“ Schutz gesucht hatten, waren 30 tot, als die Retter kamen. Auch die Schwester von Ehefrau Gretel und deren Verlobter starben im Luftschutzkeller. Und irgendwie ging das Leben weiter. Hans baute nach dem Krieg mit auf, er hatte Tischler gelernt, seine Dienste waren sehr wertvoll. „Handwerker gab es kaum noch“, erinnert er sich. Um bevorzugt eine Wohnung zu bekommen, verpflichtete er sich, 450 Quadratmeter Fußboden zu verlegen, 60 Türen und 60 Fenster und Fensterbänke einzusetzen. Zwei volle Jahre habe er jeden Abend nach Feierabend auf diese Weise für seine Wohnung gearbeitet. Schmerzhafte Erinnerungen und große Kraft Türen, Fenster, Treppen – der Bedarf nach Handwerkern war riesengroß. Das Ehepaar Germandi lebt am Martinsplatz, im Herzen Kassels, seit 26 Jahren in einem Haus, in dem einst der junge Hans die Türen und die Treppenläufe schreinerte. Noch heute sind es Schmuckstücke. Plötzlich traf er Gretel im Tanzlokal Trotz Leid und Elend, trotz Traumatisierungen und Verletzungen: Das Leben in Kassel ging nach dem Krieg weiter. Es gab schöne Momente. Hans besuchte mit einem Freund 1945 eines der ersten wiedereröffneten Tanzlokale, die Gaststätte Hahn. Plötzlich traut er seinen Augen nicht, denn die blonde Gretel kam herein. Allerdings zusammen mit einem anderen Mann. Genau erfahre ich nicht, was dann geschah. Nur soviel: Gretel ließ den anderen stehen, ging mit Hans und blieb. Bis heute. Die zwei heirateten, bekamen zwei Söhne, bauten ihr gemeinsames Leben auf. Die Liebe zur Fotografie und zum Tauchen gab der Vater an die Söhne weiter. Sohn Karl-Heinz Germandi ist heute begeisterter Naturfotograf. Liebesgeschichte in einer zerstörten Stadt In all den Jahren, in denen der Vater hart arbeitete, sich zum Bautechniker weiterbildete, vergaß er eines nicht: Er fotografierte. Sammelte Fotos. Katalogisierte. Tausende von Fotos sind ordentlich beschriftet in Fotoalben geordnet worden. Was von Kassel übrig blieb nach den Bombennächten, ist bei Hans Germandi zu sehen. Er hat jedes Häuser-Skelett beschriftet, jedem in Trümmern liegenden Straßenzug einen Namen verliehen. „Aus aller Welt rufen mich Menschen an, um mehr über ihr ,altes‘ Kassel zu erfahren“, sagt er. Er kennt Details, Namen und Orte, erzählt Geschichten, die sonst kaum noch zu hören und zu sehen sind. Foto-Chronist und Gedächtnis Kassels Der Ur-Kasseläner Hans Germandi hat seine Stadt durch die Linse beobachtet. Er ist Foto-Chronist, ein Zeitzeuge. Das Erinnern, der Versuch zu verstehen, das Erzählen – all das hat ihn unendlich Kraft gekostet. Seine Frau und er sind gesundheitlich angeschlagen. Er fotografiert mittlerweile nicht mehr. Geschenk an die Universität Fünf Filme und 1130 Bilder hat er zusammengestellt und der Universität geschenkt. Unzählige Vorträge und Referate gehalten. Immer mit einer Mischung aus Distanz, persönlichem Erleben. Mit dem Wunsch, das alte Kassel, zumindest in der Erinnerung, nicht untergehen zu lassen. Das ist seine persönliche Mission. Vielleicht auch der Versuch, mit den furchtbaren Schicksalsschlägen seines Lebens umzugehen. „Gehen wir jetzt tot?“ Von Volker Schnell www.jerome-kassel.de 11 Das fragte am Abend des 22. Oktober 1943 ein kleines Mädchen in einem der Altstadt-Keller, als das Haus darüber brennend in sich zusammenstürzte. Kassel wurde mehrmals bombardiert. Doch an diesem 22. Oktober wollte Bomber-Harris, der Chef des britischen Bomber Command, ausprobieren, ob sich nicht doch noch mal ein Feuersturm entfachen ließe, was nach dem „Erfolg“ durch Sommerhitze in Hamburg, in Berlin und im Ruhrgebiet, wo oft fast ein Drittel der Piloten und Maschinen der Flak zum Opfer fiel, einfach nicht mehr gelingen wollte. Harris brauchte eine überschaubarere Stadt, möglichst mit dichter Fachwerkaltstadt und möglichst isoliert liegend, damit nicht sofort Nachbarfeuerwehren zuhilfe eilen konnten. Da war Kassel ideal. Harris erreichte sein Ziel. 569 Maschinen warfen 416.000 Brandbomben, zwei Stück pro Quadratmeter, über 10.000 Menschen starben in einer Nacht, danach war das „alte Kassel“ nicht mehr da. Wir können nur noch mit Wehmut alte Fotos und neue Modelle betrachten und uns vorstellen, was man heute mit dieser Altstadt anstellen könnte (damals galt sie sowieso als Sanierungsfall, die Nazi-Stadtplaner waren gar nicht unglücklich). Es ist darauf hinzuweisen, dass die Briten nicht damit angefangen haben. Das theoretische Konzept des Bombenkrieges wurde in den 1920ern von den Italienern erfunden, die es in den 30ern erstmals in Äthiopien ausprobierten, aufgrund der Gegebenheiten dort ohne großen „Erfolg“. Den erzielten erstmals die Deutschen, in Guernica im Spanischen Bürgerkrieg, dann folgten Warschau, Rotterdam, Coventry, London ... Auch hatten die Briten, als sie 1940 ganz allein einem Gegner gegenüberstanden, der praktisch den Kontinent beherrschte, gar keine andere Chance, ihm irgendwelchen Schaden zuzufügen. Doch hat die Sache letztlich gar nichts gebracht: Nur der Staat konnte vor den Bomben schützen, der Bombenterror fesselte die Bevölkerung an das Regime. „Der Lebensschutz“, so Jörg Friedrich in „Der Brand“, „erringt mit einem dreiviertel Prozent Verlust einen, gemessen an der Vernichtungsenergie, kolossalen Erfolg.“ In Kassel waren es viereinhalb Prozent, mehr als in Hamburg oder Dresden, von Berlin ganz zu schweigen, nur das viel kleinere Darmstadt traf es mit über zehn Prozent noch schlimmer. Hans Germandi hat die Geschichte Kassels seit dem Krieg fotografiert und dokumentiert Foto: Mario Zgoll JÉRÔME STADT


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