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www.jerome-kassel.de 17 JÉRÔME PERSÖNLICH Wer hätte je geglaubt, dass ich einmal über 90 Jahre in diesem geliebten Kirchditmold leben dürfte? Mein Vater war Lokomotivführer und hatte diesen Vorort ausgesucht, weil er somit am Bahn-Dreieck wohnte und leicht zu Fuß seine Arbeitsstelle erreichen konnte. Zunächst wohnten wir eine kurze Zeit in der Zentgrafenstraße. Ein rotes Backsteinhaus mit einer Gaststätte mit einem elektrischen Klavier und einem Ziergarten im Erdgeschoss, genannt und bekannt als „Nassens Emma“. Es war eine herrliche, schwerelose Kindheit. Hinter meinem Elternhaus war ein kleiner Garten angelegt, in dem ein wunderbarer Birnbaum stand. „König von Paris“ nannte man seine saftige, wohlschmeckende Frucht. Da Tante Emma Nass, die Besitzerin, selbst kinderlos und großzügig war, durften wir in der Erntezeit täglich die herabfallenden Früchte auflesen und „auffuttern“. Wunderbar! Manchmal glaube ich, den herrlichen Saft heute noch zu schmecken. Gegenüber unserem Wohnhaus wohnte unter anderem die Hebamme Hartmann. Sie half so manchem Kind, in dem damals noch kleinen Kirchditmold, das Licht der Welt zu erblicken. Natürlich hatten die Kinder oftmals Spaß daran, am späten Abend auf die Schelle der Hebamme zu drücken. Nach nur kurzer Zeit ging das Fenster im zweiten Stock auf und eine energische Stimme rief: „Jo, ich komme gleich runner!“ Kurz danach ging die Haustür auf. Hebamme Hartmann erschien in ihrer ganzen Fülle mit der Hebammentasche und rief: „Wo sind Sie dann?“ Oftmals ging sie wutentbrannt wieder ins Haus in den zweiten Stock zurück, riss noch einmal das Fenster auf und schaute nach unten. „Verflixte Bälge, na wartet nur, ich kriege Euch noch!“ Diese und andere Scherze, wie Rüben aushöhlen, mit einer Kerze zu versehen und dann auf einen Stock zu stellen und damit vor die Fenster zu tragen, gehörten mit zu unseren „Missetaten“. Im Übrigen ging es sonst ganz harmonisch unter den zirka 20 Kindern zu. Es wurden in leeren Schuhcremedosen Kuchen und Torten gebacken, mit Steinchen und Klee verziert, aus dem Brunnen im Hinterhof Wasser gezapft und aus ziemlich undefinierbaren Behältern als köstlicher Wein getrunken. Hier und da erwischten wir bei Frau Meier, einer Schneiderin im Hinterhaus, ein paar Stücke Stoff – einer sogenannten Braut –, die, wenn wir Hochzeit spielten, umgelegt wurden. Unvergessen für mich sind auch die Schützenfeste geblieben, die alljährlich stattfanden. In den Dorfgasthäusern Hasper und Klebe fanden die Festlichkeiten statt. Wenn der Schützenkönig bei Mäders gekürt und geschmückt war, ging es mit dem Pferdewagen durch ganz Kirchditmold. Im Dienst der Bäckerei Faust stand damals lange Jahre Staufenbergs Miele. Die Familie Staufenberg wohnte auch im Hinterhaus bei Emma Nasse. Miele, der natürlich Emil hieß, war Kutscher bei der Bäckerei Faust. Er fuhr täglich, genau wie der alte Frost, durch Kirchditmold. Von der Bäckerei Faust wurden Brot und Brötchen gebracht, von der Molkerei Frost kamen Milch, Schmand und Butter. Es war für mich immer ein besonderes Erlebnis, wenn ich mit einem Glas zu Frosts Pferdewagen gehen durfte, um für 20 Pfennig Schmand oder für zehn Pfennig ein Sahnetörtchen zu kaufen. Nie werde ich vergessen, wie ich einmal für 20 Pfennig ein doppeltes Sahnetörtchen kaufen konnte, mit dem ich dann die drei Treppenstufen herunterfiel und das Sahnetörtchen im Straßenschmutz gelandet war. Bittere Tränen sind geflossen. Neues Geld gab es dann nicht mehr. Ich sollte lernen, besser aufzupassen. Ja, so war das damals im alten Kirchditmold, wo die Kinder noch jedes kleine Geschenk zu schätzen wussten, wo wir fest verankert waren und uns verantwortlich für den Anderen, besonders für Jüngere fühlten. Danke für jene glücklichen Kindertage, auf die ich mit über 90 Jahren in Kassel-Kirchditmold zurückblicken darf. Anneliese Hartleb, Ehrenmitglied der Internationalen Goethe-Gesellschaft in Weimar und der Goethe-Gesellschaft Kassel Mitten in Deutschland. In Hessen ganz oben. Dynamisch und sympathisch. Weltoffen und lebenswert. Attribute, die nach einem documenta-Sommermärchen und einem stimmungsvollen Jubiläumsjahr ganz selbstverständlich mit Kassel verbunden werden. Zuneigung erst auf den zweiten Blick, vielleicht sogar drei Mal genau hingucken – das kennzeichnete viel zu lange das Selbstbild und das Fremdbild Kassels. Doch frage ich mich: Warum fühlten und fühlen sich Zugereiste trotzdem so schnell wohl? Ankommen, darauf kommt es an. Als mich, einen Rhöner Jungen, berufliche Gründe 1980 nach Kassel verschlugen, hatte ich bereits nach kurzer Zeit das Gefühl, eine zweite Heimat gefunden zu haben, gründete eine Familie, sah meinen Sohn aufwachsen. Dass ich gerade jetzt in „meiner“ Stadt, die einen derartigen Wandel erlebt hat, als Oberbürgermeister an der Zukunft Kassels mitgestalten darf, ist für mich Erfüllung und Herausforderung zugleich. Mein Ziel ist es, dass Kassel in einigen Jahren zum Kreis der wohlhabenden Städte in Deutschland gehört. Wer jetzt lächelt: Wenn ich Ihnen vor zwanzig Jahren das Bild Kassels im Jahre 2013 gezeichnet hätte, hätten Sie an diese Entwicklung geglaubt? Heimat ist untrennbar mit Lieblingsplätzen verbunden. Ein solcher Ort ist für mich das Rondell an der Schlagd. Als ich Regierungspräsident war, verbrachte ich dort Arbeitspausen oder suchte Ablenkung nach stressigen Sitzungen. Die ruhig dahinfließende Fulda hat von dort oben etwas sehr Entspannendes; es scheint, als ob das Wasser die Zeit bremst, und man kommt zur Ruhe. Am meisten hat mich in meinen 33 Kasseler Jahren die Grenzöffnung bewegt. Ich erinnere mich noch gut an die Begeisterung, als die Thüringer nach Kassel kamen; das hat keinen von uns kaltgelassen und die Freude und Begeisterung waren herzerwärmend. Zuletzt genoss ich einen magischen Moment am letzten Tag der documenta 13, als ich zusammen mit Geschäftsführer Bernd Leifeld am 16. September 2012 symbolisch die Tür des Fridericianums abschloss. Ohne große Absprachen oder Werbung war der Friedrichsplatz genau zu diesem Zeitpunkt voller Menschen, die sich von einem wunderbaren documenta Sommer verabschieden wollten. Da lag ein ganz besonderer Zauber über dem Platz. Je intensiver ich also darüber nachdenke, was mir Kassel bedeutet und welche Ereignisse mich beeindruckt und geprägt haben, desto mehr gerate ich ins Schwärmen. Ja, ich bin angekommen. Und darauf kommt es an. Bertram Hilgen Oberbürgermeister der Stadt Kassel


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