Ecce homines

Atelierbesuche: Die greifbare Welt der Christine Reinckens
Sie sieht ein wenig verloren aus, so wie sie da, nur zart von Unterwäsche umhüllt, offenkundig ratlos am Boden sitzt, vor ihrem bereits bis zum Bersten gefüllten Kleiderschrank. Man ist geneigt, ihr spontan helfen zu wollen: Vielleicht das kleine Schwarze, da oben rechts? Oder das Blassviolette daneben? Das Pinke? Keine Reaktion. Ein Bild des Jammers – noch dazu ein großformatiges – und zugleich schon hier, bereits vor der Ateliertür, eine deutliches Signal an alle Besucher: Mit dem großen Cabaret der Abstraktion, jenem Abgrund an frei interpretierbarer Beliebigkeit, mit ihm ist hinter dieser Tür auf gar keinen Fall zu rechnen. Nicht in der Welt der Christine Reinckens. Denn die Motive ihrer Gemälde fußen stets auf sehr greifbaren Realitäten, allen voran, in sämtlichen physisch wie psychisch denkbaren Variationen: der Mensch. „Dessen Form ist so unerreicht schön, was soll ich da durch Abstraktion besser machen? Ich kann mich doch immer nur bescheidenst bemühen, dass ich die Wiedergabe dieser Form jedes Mal überhaupt neu erreiche“, sagt die aus Hannover stammende Künstlerin, die in den 80er Jahren an der Kasseler Kunsthochschule studierte, einer für den Realismus sehr speziellen Zeit, wie sie sich erinnert: „Zunächst musste man sich dafür rechtfertigen, überhaupt Kunst zu studieren zu wollen, später dafür, sich für die Malerei entschieden zu haben. Und realistisch malen, dazu auch noch Menschen – das schien schwierig, fast abwegig.“

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Beobachtung als Kraftquelle: die Malerin Christine Reinckens. Foto: Jan Hendrik Neumann

Beobachtung als Kraftquelle
Doch Kassel als Studienort stellte sich für sie schnell als überaus glückliche Wahl heraus, denn in den Hbk-Professoren Kurt Haug und Manfred Bluth – letzterer ein Mitbegründer der Künstlergruppe „Schule der neuen Prächtigkeit“ – fand sie veritable Förderer ihrer künstlerischen Ambitionen, die zunächst noch breit gefächert waren. „Die Zeichnung etwa lag mir eigentlich viel näher“, bemerkt Christine Reinckens. „Die Malerei hingegen musste ich erst lernen, die habe ich mir geradezu erobert. Denn damals konnte ich noch nicht in Farben sehen und fühlen, da stand noch die Linie und das Volumen im Vordergrund.“ Was indes auch in dieser Zeit schon bestimmend war, ist nach wie vor die Passion der Künstlerin: „Meine wichtigste Kraftquelle ist die Beobachtung. Die Schulung des Auges und gleichzeitig dieses Übertragen von Empfindungen, also: Was entsteht, wenn ich jemandem gegenübertrete? Denn die Beziehungsebene ist für mich enorm wichtig. Man hat ja Sympathien oder spürt, was in seinem Gegenüber gerade vorgeht. Das überträgt sich in der Gegenwart des Menschen ganz anders auf die Bildfindung als wenn ich etwa ein Foto als Vorlage benutze. Zudem versuche ich, auch über das Äußere des Menschen hinaus, mich im Gespräch seiner Geschichte anzunähern, der Frage nachzugehen, wie ein ihm entsprechendes Umfeld malerisch aussehen könnte.“ Diese Vorgehensweise wendet sie, sanft anthropomorphisierend, ebenso auf Objekte an, „denn auch diese haben ihre Geschichte und ihre Brüchigkeiten, wenden sich zu, wenden sich ab – oder setzen sich in Bewegung“.

Bildhaftigkeit und Malmaterial
Die stilistische Ausrichtung ihrer Arbeiten hat Christine Reinckens im Lauf der Zeit in neue Bahnen gelenkt. „Anfangs habe ich versucht, immer feiner und genauer zu werden, mit vielen Schichten und Inszenierungen eine Art zweite Wirklichkeit zu erschaffen“, erläutert die Künstlerin, die Jenny Saville, Lucian Freud und die Maler der „Neuen Sachlichkeit“ zu ihren künstlerischen Vorbildern zählt. „Irgendwann kam mir das jedoch zu glatt und distanziert vor und ich hatte das Gefühl: Ich will noch mehr mit Farbe ausdrücken.“ Doch nicht nur das physische Erscheinungsbild ihrer Modelle oder die Ausdruckskraft des Malmaterials inspiriert die Künstlerin: „Manchmal entfaltet schon die Sprache an sich eine solche Schönheit und Bildhaftigkeit, dass vor meinem inneren Auge unmittelbar ein Bild entsteht. Und das will dann umgesetzt werden, wie etwa diese Arbeit mit den Füßen hier. Entstanden ist sie beim Nachdenken darüber, wie man das Vergehen der Zeit in Worte fassen könnte. Bei uns ,verrinnt‘ und ,verstreicht‘ sie, im Französischen spricht man vom ,Schnüren der Zeit‘. Die Schnur, ,der Faden, der verläuft‘, hat also auch etwas mit dem Verlaufen der Zeit zu tun. Dazu ist mir noch eingefallen, dass in der nordischen Mythologie, der Edda, die drei Nornen ,zu Füßen des Weltenbaumes die Schicksalsfäden spinnen‘.“ Das Bild, nun betitelt „Fußläufig“ oder „Au fil du temps“, ist nur eines aus einer Vielzahl von Gemälden, die seit 1990 im Atelier der Malerin entstanden sind, angefangen bei kleinen, feinen Ölstudien, bis hin zu ihrem bisherigen Monumentalwerk „Variationen des Wartens“, das auf zwei Zehn-Meter-Friesen insgesamt 40 Personen darstellt, in voller Lebensgröße. Ebensogut könnte es heißen: „Ecce homines“ – „Sehet, was für Menschen!“

Weitere Informationen unter www.reinckens.de

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