Von den Bürgern der Stadt getragen

Es war im November/Dezember 1989, als nach der Öffnung des Eisernen Vorhanges die Trabies aus Thüringen sich in der Humboldtstraße und Terrasse stauten und ihre Insassen frierend warteten, bis das Landratsamt geöffnet wurde, damit sie ihre 100 Mark Begrüßungsgeld empfangen und in der Stadt einkaufen konnten. Wir, die Anwohner, versorgten die Frierenden mit Kaffee und Tee, zum Teil auch mit Kuchen und Brötchen, um ihnen die Wartezeit zu erleichtern. Man war dankbar; einige klingelten dann noch einmal am Abend und baten um „Spritgeld“ für die Heimfahrt.

Prof. Dr. Hansjörg Melchior, Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“. Foto: Mario Zgoll

Prof. Dr. Hansjörg Melchior, Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“. Foto: Mario Zgoll

In dieser Zeit saß ich häufig mit Bernd Behrens zusammen beim Wein und wir ließen diese außergewöhnlichen Situationen Revue passieren; uns war klar, dass die Öffnung der nahen Grenze zwischen West- und Osteuropa ein Jahrhundertereignis mit weitreichenden politischen Konsequenzen war. Dieses Ereignis durfte an Kassel nicht spurlos vorüber gehen; wir wollten etwas Nachhaltiges ins Leben rufen, welches an die Bedeutung der politischen Umwälzungen dieser Zeit erinnert, eine Veranstaltung, gegebenenfalls mit Preisverleihung, initiieren, die regelmäßig die Erinnerungen an diese Ereignisse wachruft. Es musste etwas sein, das vor der Geschichte unserer Stadt Stand hält: die Zeit der Aufklärung, der Vernunft und Toleranz gegenüber Andersdenkenden, der Überwindung ideologischer Schranken. Es sollte ein Preis sein, der unabhängig von politischen Institutionen oder Parteien war, der von den Bürgern unserer Stadt getragen wird.

Aus der Idee wurde ein Konzept, mit dem wir bei den Gremien der Stadt vorstellig wurden und das breite Zustimmung fand. Doch das Kind brauchte auch einen Namen: Gürtel oder Schnalle des Herkules, Philips-Medaille oder Fulda-Band lauteten einige Vorschläge. Auf der Fahrt zur morgendlichen Vorlesung in Marburg im Mai 1990 auf der B3, sah ich die in der Morgensonne im Tau glitzernden Wiesen. „Glitzert das nicht wie Glas?“ Da gab es in Kassel doch die Glashütte Süßmuth! Der Name Glas der Vernunft wurde zur Taufe getragen; aber unser Freund Karl Oskar Blase hob mahnend den Zeigefinger: Es darf kein Trinkglas oder Becher sein, kein Schierlingsbecher! Und er entwickelte die Glas-Skulptur, das analytische Glas der Aufklärung.

Nach einigen Vorbereitungen und Diskussionen um Satzung und Rechtsform wurde 1991 dann schließlich die Gesellschaft der Freunde und Förderer gegründet und als gemeinnütziger Verein eingetragen. Die erste Preisverleihung fand im November 1991 statt, kurz nach der Übernahme der DDR in die Bundesrepublik Deutschland; der erste Preisträger war der damalige Außenminister Hans Dietrich Genscher, dem wir für seinen Einsatz um Freiheit der Bürger in der ehemaligen DDR danken wollten.

Ich freue mich, dass der Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“ nun bereits zum 24. Mal verliehen werden konnte. Über die Hintergründe und den Preisträger Ferenc Köszeg berichtet diese Ausgabe von Jérôme. Wie immer wollen wir mit der Preisverleihung nicht nur seine persönlichen Verdienste würdigen, sondern auch auf gesellschaftliche, kulturelle, politische oder menschliche Probleme in der Welt aufmerksam machen.

Prof. Dr. Hansjörg Melchior
Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“

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