Kunsthochschule Kassel – Aufwind für das gallische Dorf

Was Kunststudenten in spe früher nach Kassel zog – neben der Aussicht, zumindest eine documenta mitzuerleben – war oft verknüpft mit bundes- bzw. weltweit bekannten Professoren. Dazu zählten etwa Jan Lenica, Hans Hillmann und Gunter Rambow – Stichwort „Kasseler Plakatschule“ – oder Harry Kramer und Eberhard Fiebig. Sie alle lehrten an der Kasseler Kunsthochschule, wo mittlerweile eine völlig neue Professoren-Generation nachgewachsen ist. Über die aktuelle Situation dort sprachen wir mit Prof. Joel Baumann, Rektor der Kunsthochschule und zugleich Vorsitzender des Kasseler Kunstvereins.

Joel Baumann (links), seit 2003 Professor für Neue Medien und seit 2013 Rektor der Kunsthochschule Kassel, im Gespräch mit Jérôme-Redakteur Jan Hendrik Neumann. Foto: Mario Zgoll

Joel Baumann (links), seit 2003 Professor für Neue Medien und seit 2013 Rektor der Kunsthochschule Kassel, im Gespräch mit Jérôme-Redakteur Jan Hendrik Neumann. Foto: Mario Zgoll

Jérôme: Wofür steht die heutige Kasseler Kunsthochschule und wie wird sie außerhalb Kassels wahrgenommen?

Prof. Joel Baumann: Zu den großen Themen sowohl in der Bildenden Kunst wie auch in der Visuellen Kommunikation zählen derzeit das Bewegtbild und die Rauminstallation. Und da sind wir in beiden Fächern personell gut aufgestellt, etwa mit Bjørn Melhus, der ja einer der bekanntesten deutschen Videokünstler ist, auf jeden Fall einer der wichtigsten, oder mit der documenta- und Biennale-Künstlerin Fiona Tan, dem Konzeptkünstler Florian Slotawa, der Konzept- und Installationskünstlerin Ella Ziegler wie auch der Video- und Installationskünstlerin Mathilde ter Heijne. Eine Besonderheit ist sicher, dass es bei uns keine starren Schemata gibt, sondern oft Überschneidungen zwischen den einzelnen künstlerischen Disziplinen, diese sich sozusagen gegenseitig befruchten. Bei der Rektorenkonferenz der deutschen Kunsthochschulen werden wir nicht zuletzt daher als eine der mittelgroßen bis großen Schulen eingeschätzt, die sehr aktiv auf dem Feld sind, also sehr sichtbar mit ihren Studierenden, mit ihren Künstlern. Und auch in der hFMA, der hessischen Film- und Medienakademie, sind wir sehr hoch angesehen, denn unsere Filme laufen andauernd auf den Biennalen, und insbesondere die Trickfilmklasse, betreut von den Thomas Meyer-Hermann und Martina Bramkamp, strahlt überall hin. Aktuell haben meine eigenen Studierenden – aus dem Bereich Neue Medien – gerade auf der Linzer „Ars Electronica“ einen Film gezeigt, ein weiterer Student präsentiert seine Arbeiten auf der Berliner „transmediale“ – wie unsere Künstler überhaupt nahezu ständig außerhalb ausstellen und überall anerkannt sind. Daher fördert beispielsweise auch die „Studienstiftung des deutschen Volkes“ des Öfteren unsere Studierenden.

Jérôme: Wie positioniert sich Kassel beim „Ranking“ der deutschen Kunsthochschulen?

Baumann: Das ist natürlich immer bereichsspezifisch. Generell sind wir meiner Einschätzung nach in der oberen Mitte verortet, und in manchen Bereichen sind wir exzellent, etwa im Bereich Comic, der von Hendrik Dorgathen geleitet wird. Beim Internationalen Comic-Salon Erlangen ist gerade die dort entstandene Arbeit „Triebwerk“ als „beste studentische Comic-Publikation“ mit dem „Max und Moritz-Preis“ ausgezeichnet worden, der wichtigsten Auszeichnung für Comic-Kunst und grafische Literatur im deutschsprachigen Raum.

Jérôme: Wie gestaltet sich die Raumsituation für die Studenten? Entspricht das Angebot dem tatsächlichen Bedarf?

Baumann: Es gibt bei uns Klassen, die sind sehr groß, und es gibt Klassen, die sind relativ klein, und das Gleiche gilt für die Werkstätten – immer in Abhängigkeit davon, wohin die Ausrichtung gerade geht. Als ich zum Beispiel 2003 hier an der Kunsthochschule angefangen habe, da musste alles unbedingt digital sein und die digitalen Werkstätten waren infolgedessen völlig überlaufen. Heutzutage – nicht zuletzt als Folge von NSA, Überwachungsangst, etc. – geht der Trend stattdessen wieder in Richtung „Do-it-yourself“, nun wollen alle nur noch mit Holz und Metall arbeiten. Hätten wir also in der Zwischenzeit alle nicht-digitalen Werkstätten geschlossen, wie das so manche Schule tatsächlich gemacht hat, hätten wir jetzt ein Problem. Wobei solche Fragestellungen immer wieder kommen, aktuell etwa in Bezug auf das analoge Fotostudio, wo noch mit Chemie gearbeitet wird. Diese Technik mag im Moment zwar kommerziell unerheblich sein, aber in der Lehre ist das nach wie vor wichtig. Wir finden uns daher oft gemeinsam um den Tisch wieder – Professoren, Studierende und Mittelbau – und es wird rege diskutiert, was die Ausrichtung der Lehre, was die Ausrichtung der Werkstätten hier sein soll.

Jérôme: Früher war die Professorenschaft der Kasseler Kunsthochschule bekannt für ihre ausgeprägte Streitlust und heftige Revierkämpfe, zumindest gab es da einige exponierte Vertreter. Wirken diese Strukturen noch fort?

Zuvor schon erfolgreich mit dem Londoner Kreativ-Kollektiv tomato: Kunsthochschul-Rektor Joel Baumann (45). Foto: Mario Zgoll

Zuvor schon erfolgreich mit dem Londoner Kreativ-Kollektiv tomato: Kunsthochschul-Rektor Joel Baumann (45). Foto: Mario Zgoll

Baumann: Obwohl sich die Verhältnisse längst grundlegend gewandelt haben, ist die Kunsthochschule leider immer noch mit diesem Stigma behaftet: Dass da unten in der Aue eine Bande von Verrückten – dem gallischen Dorf bei „Asterix“ nicht ganz unähnlich – sich gegenseitig auf den Kopf haut und jeder einzelne davon froh sein sollte, immer noch eine Professur zu haben … Aber von diesen Leuten ist längst keiner mehr da. Heutzutage sind wir wirklich eine ganz neue „Bande“, und wir verstehen uns eigentlich alle sehr gut. Wir sind zwar immer noch Individualisten, wir sind starke Köpfe, aber es ist uns allen klar, dass wir wenig erreichen und uns das Leben nur unnötig schwer machen, wenn wir nicht kooperieren. Und das gilt für die Hochschule wie für den Kunstbetrieb. Denn auch dort funktioniert heute nichts mehr ohne Netzwerk, ohne möglichst fruchtbare Kommunikation. Wenn ich etwa in meiner Funktion im Kunstverein arbeite und einen Künstler ausstellen möchte, dann habe ich mit seinen Sammlern zu tun, seinen Galeristen und mit Leuten, die uns die Technik beisteuern, sowie natürlich mit Sponsoren, damit die Ausstellung überhaupt machbar ist. Das geht alles nur auf einer Basis von Höflichkeit und angemessenem zwischenmenschlichen Verhalten. Würde ich da einfach Eitelkeit an den Tag legen und mich mit allen anlegen, wäre das ganz schnell vorbei.

Jérôme: Aus den 80er Jahren erinnere ich mich an einen Kasseler Kunstprofessor, der sich ganz keck hinstellte und sagte: „Mir reicht auch ein Student!“ Käme er damit heute noch durch?

Baumann: Würde mir ein solcher Umstand bekannt, könnte ich denjenigen zwar anmahnen, aber nicht rausschmeißen, denn der Beamtenstatus erlaubt schon einiges. Zudem investiert da ja möglicherweise jemand nur viel mehr in die Forschung als in die Lehre. Aber ich könnte dann – natürlich immer in Absprache mit dem Präsidium der Universität – seine Mittelzuteilung überprüfen und auch sagen: Die Raumzuteilung ist dem nicht mehr angemessen. Das Wichtigste wäre jedoch, am Menschen selbst zu arbeiten. Denn eine gute Struktur ist erst gegeben, wenn die ganzen Kollegen eine solche Person dann ansprechen und fragen: Was ist denn das Problem? Können wir helfen? Und wenn jemand Sachen anbietet, die einfach keinen interessieren, dann bietet man ihm vielleicht an, ein gemeinsames Angebot auszuarbeiten. Weil: Wir tragen auch gemeinsam die Last – so ist das hier. Wir haben den Anspruch, die Dinge gemeinsam zu regeln.

Jérôme: Bis zur Neugründung der Kasseler Kunsthochschule im Jahr 2000 – nun teilautonom – konnten Studierende ihre Studiendauer selbst bestimmen. Ist das, nach Einführung der Regelstudienzeit auch für Künstler und Gestalter, immer noch möglich?

Baumann: Im Prinzip schon. Die Studenten werden aber heutzutage schon mehr angesprochen, dass sie in Richtung eines Abschlusses kommen. Die Dinge laufen heute einfach anders als noch in den 80er und 90er Jahren. Diese Zeit hatte zwar sehr viel Positives, aber zugleich gab es da sicher auch eine gewisse Verblendung. Ich meine, das war doch eine Hootchie Cootchie-Welt, zumindest in Westdeutschland. Man hatte noch den überschwappenden Rest vom Marshallplan und vieles wurde gefördert oder war fördermäßig aufgebaut – Strukturen, in denen man einfach so leben konnte. Das ist momentan nicht so. Daher kann man den jungen Leuten nicht unrealistisch gegenübertreten und sie einfach machen lassen, denn eines Tages verlassen sie diese Schule und finden sich wieder in einer Welt, in der es dann doch um ökonomische Fragestellungen geht und Dinge wie Geschwindigkeit und Performance plötzlich von Bedeutung sind. Gleichzeitig will ich natürlich nicht, dass jetzt alle nur irgendwelchen Werbeagenturen oder irgendeinem Markt nachrennen. Da muss es ein entsprechendes „Mittelmaß“ geben. Und das ist, so glaube ich, momentan sehr gut hier.

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