Gegen alle Widrigkeiten

Nach Athen: documenta 14 auf Zielkurs
Die magische Millionengrenze – wird sie nun endlich überschritten? Alles deutet darauf hin. Denn waren es bei der ersten, von ihrem Gründer Arnold Bode ausgerichteten documenta von 1955 noch vergleichsweise bescheidene 130.000 Besucher, die sich zur seither weltgrößten Ausstellung für zeitgenössische Kunst einfanden – und das quasi nur als Nebeneffekt der zeitgleich ausgerichteten Bundesgartenschau –, so schnellte diese Zahl mit jeder weiteren Schau kontinuierlich in die Höhe, bis auf 860.000 Besucher, die 2012 nach Kassel gezogen wurden durch die von Carolyn Christov-Bakargiev konzipierte Documenta 13.

Agnes Denes schuf die „Living Pyramid“. Foto: Uwe Thon

Agnes Denes schuf die „Living Pyramid“. Foto: Uwe Thon

Mit seiner Erweiterung um den Erst-Spielort Athen und der damit verbundenen Ausstellungsverlängerung um 63 Tage konnte Adam Szymczyk, künstlerischer Leiter der Documenta 14, nach dem Eröffnungswochenende am Zweit-Spielort Kassel immerhin bereits Mitte Juni ein Gesamt-Zwischenergebnis von 240.000 Besuchern vermelden. Bei Ende des Athener Teils der Ausstellung, einen Monat später, wurde schließlich schon von 320.000 Klicks berichtet, die man allein an den rund 50 Ausstellungsorten der 3,7 Millionen Einwohner-Metropole verzeichnet habe, mit Hilfe von Zählgeräten. Einfacher und konkreter, wenngleich dann wohl unwillkürlich um jenen Rest von Geheimnis betrügend, der bekanntlich jeder würdig als solcher zu bezeichnenden Kunst innewohnt, wäre sicher eine Angabe über die Zahl verkaufter Eintrittskarten gewesen. Doch unter richtungsweisender Vermeidung formalistischer Zwänge – und vermutlich nicht zuletzt unter dem Primat des nachhaltigen Schutzes natürlicher Ressourcen – gab es diese erst gar nicht.

Überwindung von Sehgewohnheiten
Dass auch Griechen ihren Weg in die Ausstellung fanden – nach offiziellen Angaben stellten sie sogar die Hälfte der Besucher – kann ebenfalls kaum hoch genug bewertet werden. Denn im nun zwischen zwei Spielorten aufzuteilenden Gesamtbudget von 37 Millionen Euro war selbstverständlich kein entsprechender Werbe- und PR-Posten für die flächendeckende Mobilisierung einer Millionenstadt vorgesehen, ganz abgesehen von dem kaum zu vermeidenden Umstand, dass die zweifellos progressiv zu interpretierenden Ansätze bei der Gestaltung der auf die Documenta 14 hinweisenden Plakate entweder ein geübtes Auge zur Entschlüsselung, besser noch den unbedingten Willen zur Überwindung tradierter Sehgewohnheiten voraussetzen.

Selbiger Ansatz war auch zur Entdeckung der oft gut verborgenen Ausstellungsorte von Vorteil, wenngleich die Absenz stupider Wiedererkennungsmerkmale zur selbstverantwortlichen und kreativen Stadterkundung einlud, fernab der Automatismen touristischer Trampelpfade und somit möglicherweise völlig bewusst eingesetzt, ganz im Sinne der einst von dem Schweizer Soziologen, Kasseler Hochschulprofessor und nunmehrigen posthumen Documenta-Künstler Lucius Burckhardt begründeten Promenadologie, vulgo Spaziergangswissenschaft. Vergleichsweise leicht zu finden war immerhin der Documenta 14-Spielort EMST, jenes Nationale Museum für Zeitgenössische Kunst, von dessen Gründung bis zur Teileröffnung im Oktober 2016 beachtliche 16 Jahre vergingen, bevor es für die Bestückung mit Objekten der Documenta nun wieder leergeräumt wurde.

Auf den Spuren Adornos
Was dort eines schönen Tages vielleicht sogar dauerhaft zu sehen sein wird, lässt seit Fortsetzung der Documenta 14 in Kassel ein Besuch im Fridericianum erahnen, für das noch bis Anfang 2017 die Sammlung des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt vorgesehen war. Hier, im einstigen traditionellen Herzstück der Weltkunstausstellung, kann sich stattdessen nun erstmalig das EMST entfalten, unter Berücksichtigung der Prämissen von Adam Szymczyk, der aus dem reichhaltigen Fundus des mit Kunst seit den späten 70er Jahren bis heute bestückten Museums 200 Werke auswählte, die vorzugsweise mit den von ihm gesetzten Themen korrelieren, etwa der Problematik Flüchtlinge und Einwanderer, wie auch einer an seinen Folgewirkungen aufgezeigten Kapitalismuskritik, mit welcher der 1970 in Polen geborene Kunstkritiker und Kurator seit frühester Jugend vertraut sein dürfte.

Er trägt damit einen Stab weiter – wenngleich ungleich expliziter –, den vor 20 Jahren bereits Catherine David aufnahm, die künstlerische Leiterin der documenta X. Wo diese indes noch moderate, gar humoreske Exponate inkludierte, scheint Szymczyk eher dem Kunstverständnis des Philosophen Theodor W. Adorno zu folgen, der in seiner »Ästhetischen Theorie« schrieb: „Kunst muss das als hässlich Verfemte zu ihrer Sache machen, nicht länger um es zu integrieren, zu mildern oder durch den Humor, der abstoßender ist als alles Abstoßende, mit seiner Existenz zu versöhnen, sondern um im Hässlichen die Welt zu denunzieren.“

Das Beste verpassen?
Dass auch, vielleicht sogar gerade dieser Ansatz funktioniert, zeigen nicht zuletzt die ersten, durchweg positiven Rückmeldungen aus der Kasseler Gastronomie und Hotellerie. Denn mittlerweile nahezu im Status des Selbstläufers, besticht die Documenta heute, bei diesmal 32 Spielstätten, allein schon durch ihre für keinen Wochenendbesucher mehr zu bewältigenden Größe: Das Beste hat man vielleicht gerade verpasst. Ein guter Grund, schon bald wiederzukommen.

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