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Als in Kassel Geborener, und damit schon mal mindestens „Kasselaner“, habe ich vom ersten Lebenstag an eine intensive Beziehung zu unserer Stadt. Den größten Teil meines Lebens habe ich in Ahnatal Weimar gelebt. Für drei Jahre aber durfte ich in meiner Kasseler Zeit mit Altbauwohnung in der Dörnbergstraße die besonders urbane Atmosphäre des Bebelplatzes genießen. Gerne denke ich zurück an Straßencafés, Friedrich-Ebert-Straße und Goetheanlage, Aschrott-Park und Friedenskirche, Linie 4 und viele kleine inhabergeführte Geschäfte und Buchläden direkt vor der Haustür. Mein beruflicher Lebensmittelpunkt ist ohnehin seit über 30 Jahren Kassel. Täglich führt mich heute mein Weg ins Büro durch so unterschiedliche Stadtteile wie Harleshausen, Kirchditmold und den Vorderen Westen in den Stadtteil Mitte zum Sitz der Kasseler Sparkasse in die Wolfsschlucht 9. Als Vorstandsmitglied habe ich den wirtschaftlichen Aufschwung Kassels von dort aus unmittelbar erlebt und arbeite gerne mit an der Dynamik, mit der sich unser Wirtschaftsraum entwickelt. Dabei wünsche ich uns nicht nur, dass diese Entwicklung weitergeht, sondern auch, dass es gelingt, die Besonderheiten unserer Stadt zu erhalten, nicht nur wenn es sich um Weltkulturerbe handelt, sondern überall dort, wo es identitätsstiftend wirkt. Auch wenn wir hier keine Schwaben sind und sehr wohl ausgezeichnet hochdeutsch sprechen, darf es hin und wieder auch mal ein bisschen Kasseläner Dialekt sein. Wäre doch schade, wenn der ausstürbe. „Mäh sin schließlich mäh“ – oder? Wolfram Ebert, Mitglied des Vorstands der Kasseler Sparkasse Driving Home for Christmas Das ist ein schöner Song von Chris Rea, der in der Adventszeit oft im Radio läuft. Über zwanzig Jahre lebte ich im Ruhrgebiet; am ersten Weihnachtsfeiertag fuhr ich immer nach Hause, nach Kassel (na ja, nach Vellmar, wohin meine Eltern inzwischen gezogen waren). Chris Rea singt davon, wie glücklich er ist, an Weihnachten nach Hause fahren zu können. An einer Ampel guckt er zum Fahrer des Wagens nebenan: Dem geht’s genauso. Und ich ziehe eine Metaebene ein: An einer der Ampeln auf der B1 in der Dortmunder Innenstadt gucke ich zum Fahrer des Wagens neben mir, der hört den gleichen Song und singt mit. (Diese Ampeln wurden früher bespöttelt als die einzigen zwischen Rotterdam und der Mauer. Die Mauer steht längst nicht mehr, doch die Ampeln gibt’s immer noch; jetzt sind es vermutlich die einzigen zwischen Rotterdam und dem Ural.) In Warburg oder Breuna abzufahren und über die B7 nach Vellmar zu kommen, wäre erheblich kürzer, doch ich fuhr immer bis Wilhelmshöhe, die schöne Adenauerstraße entlang, um den atemberaubenden Blick auf das Lichtermeer im Kasseler Becken zu genießen, wenn man die Druseltalstraße hinunterfährt, dann den Weinberg hoch, auf dem Steinweg zwischen Staatstheater und Fridericianum hindurch, beide angestrahlt, und ich war wieder zu Hause. Der erste Abend gehörte den Eltern, am zweiten Feiertag stand immer der Besuch bei Klaus Becker in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung auf dem Programm, erst über den Garagen hinter dem SPD-Haus in der Humboldtstraße, später in der Hupfeldstraße, und ich verwandelte mich wieder in den Schüler, der ergriffen zum Mentor aufschaut und seinen Einlassungen über das Weltgeschehen lauscht oder seinen herrlichen Indiskretionen über Kasseler Interna, die er nicht mal im Estra Tip bringen konnte (betrunken aus Festivitäten herausgetragene OBs und dergleichen). Abends Besuch bei alten Freunden, wo immer noch der Joint rumging, an dem ich dann auch mal zog. Oder wir guckten uns Dias von früher an, als ich mit einem Kumpel auf dem Rothenberg hauste, die Nachbarn beschwerten sich, bei uns wären sonntags immer Nackte durchs nicht mit Stores verhüllte Küchenfenster zu sehen. Tatsächlich machten wir viel Party, und das Mädel, das gegen Sonntagmittag als erste in die Küche tapste, um Kaffee aufzusetzen, hatte oft nichts an. Die kleine Trudi, heute Frau Dr. Gertrud, schaffte es irgendwann, die Kaffeemaschine zur Explosion zu bringen, und wir flogen raus. Mein Gott, über dreißig Jahre ist das her. Ach, Heimat. Jetzt lebe ich seit fünf Jahren wieder hier, und mir fehlt es an nichts – außer, an Weihnachten nach Hause fahren zu können. Volker Schnell Autor von „Mordhessen“ und „Der schlaue Pate“ Meine persönliche Kassel-Geschichte spielt nicht im Stadtgebiet und ist kaum greifbar. Sie beschreibt eher ein Gefühl als ein konkretes Ereignis. Während meines Studiums gab es regelmäßig Phasen, in denen ich in München sein musste. Ich kann verstehen, dass es viele Menschen gibt, die sich an der Isar wohlfühlen. Die Biergärten, das kulturelle Angebot und die Folklore sind nett, zwischen der bayrischen Landeshauptstadt und mir hat sich jedoch keine Liebesbeziehung entwickelt. Ab und an habe ich das Auto statt der Bahn genutzt, um zwischen München und Kassel zu pendeln. Nach einer langen Uni-Phase und einer beschwerlichen Fahrt (in der Regel Freitagabend) habe ich immer meinem persönlichen Kassel-Moment entgegengefiebert. Wer jemals über die A7 aus dem Süden nach Kassel gekommen ist, weiß, wovon ich spreche. Es gibt diese eine Stelle, kurz hinter der Abzweigung für die A44. Nach dem letzten Anstieg und einer langen Linkskurve ist man plötzlich hoch oben über dem Kasseler Becken. Abends sieht man die Lichter der Stadt, erkennt die Stadtteile und die markanten Gebäude, und über allem thront der Herkules in seinem grünen Licht. Bei mir stellt sich dann das Gefühl von Geborgenheit ein, ich bin zu Hause. All die vielen lieb gewonnenen Geschichten, Besonderheiten und Personen sind wieder da, und ich weiß, warum kein anderer Ort auf der Welt meine Heimat sein kann. Pierre Schlosser, Projektkoordinator GrimmHeimat NordHessen 36 www.jerome-kassel.de JÉRÔME PERSÖNLICH


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