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www.jerome-kassel.de 29 JÉRÔME FEUILLETON Woher kommt sie nur, diese unbändige Lebenslust, die Oksana beinahe auf Schritt und Tritt versprüht, vorzugsweise so très chic gewandet, als stünde schon im nächsten Moment ein Besuch im Pariser Lido an, vielleicht sogar eine Stippvisite am oder gar im Trevi-Brunnen Roms? Im Lande der Chatten, bekanntermaßen dem einzigen Volksstamm, der bei der großen Völkerwanderung lieber gleich zuhause Hochenergetische Ausschweifungen: Künstlerin Oksana Kyzymchuk mit Prof. Dr. Ernst Magnus Noah vor ihrem Werk »Verlorenes Paradies« (2019). Fotos: Matthias Helmrich, Jan Hendrik Neumann blieb, branden solchem Gebahren zumeist unverzüglich Wogen des Argwohns entgegen, getragen vom Ressentiment gegenüber jedem vermeintlichen Anflug von Unbotmäßigkeit, eher jene vorzugsweise unbeobachteten Momente stillen Glücks auf dem heimischen Sofa präferierend. Doch wer wie Oksana – was sich wahlweise mit »die Fremde« oder »die Gastfreundliche« übersetzen lässt – selbst zwischen Borschtsch und Chanel behände die Balance halten kann, im Flüsternd- Mediokren nie sein Lebensziel sah, lässt sich davon schwerlich beeindrucken. Und trommelt eher umso lauter, im festen Vertrauen in Gott und die Welt und nicht zuletzt das eigene Genie, auf dass jedem Tag die immer zum Greifen nahe, verheißungsvolle Chance innewohne, sich als höchst memorables Wunder zu entfalten, als in Opulenz schwelgendes Fest der Sinne – wenn man es denn nur darauf anlegt, heißen Herzens. Poesie in der Luft Um zu ergründen, aus welchen Quellen sich ihr in so vielerlei Facetten unbedingter Ausdruckswille speist, mag ein Blick in Kyzymchuks ursprüngliche Heimat hilfreich sein: In einer Stadt, vor der selbst das allwissende Wikipedia kapituliert, stammt die dort genannte Einwohnerzahl von 53.703 doch noch aus dem Jahr 2004. Immerhin erfährt man hier, dass Nowowolynsk Anfang der 50er Jahre als Arbeiterstadt gegründet wurde, schon kurz nach dem Ende der Sowjetunion 1991 wirtschaftlich zusammenbrach und seither der Stagnation anheimfällt: „Viele Bewohner sind in Großstädte oder ins Ausland gezogen, um dort Geld zu verdienen.“ Immerhin zwei prominente Söhne hat der Ort bislang hervorgebracht, einen Fußballnationalspieler und einen Handballtorwart, touristisch verwertbare Attraktionen gibt es indes nicht. Aber zumindest ein Hotel. Und hier wird es dann interessant, ist dieses doch, gelegen inmitten einer von Kohlebergwerken bestimmten Region, ausgerechnet nach dem Hauptwerk des spanischen Nationaldichters Miguel de Cervantes (1547–1616) benannt: »Don Quixote« – eine solchermaßen kühne Hotel-Namensgebung gibt es im gesamten deutschen »Land der Dichter und Denker« nicht. Statt nur Ruß scheint in Nowowolynsk dann wohl doch ein Hauch von Poesie in der Luft zu liegen, etwas allen äußeren Unbilden zum Trotz die Phantasie Beflügelndes, Tollkühnes, Widerspenstiges, Inspirierendes, um eigene imaginäre Welten zu erschaffen. Von 1996 bis 2000 besuchte Oksana hier, neben ihrer regulären Schule, die öffentliche Kunstschule, als Basis für ihr anschließendes Kunstgeschichtsstudium in Rivne, wo sie ihr mittlerweile unverkennbares Gestaltungstalent im Nebenjob erstmals in klingende Münze umsetzen konnte: als Typberaterin im Coiffeurstudio »Lady Star«. Ab 2007, von der Rivner Damenwelt umgehend schmerzlichst vermisst, folgte ein Kommunikationsdesign-Studium in Mainz, mit Schwerpunkt Fotografie, das sie abschloss mit der Traumnote 1,0 – wie es sich gehört, wenn man wirklich wollen will. Bukolische Szenen und Lustgewebe „Zunächst besticht ihre unbändige, kraft- und lustvolle Art, wie eine Naturgewalt besetzen Geist- und Linienströme die Fläche, unkontrolliert, hingefetzt, ausschweifend, hochenergetisch, anarchisch anmutend und zugleich kunstvoll in Szene gesetzt. Ihr Reichtum an Bilderfindungen erscheint unerschöpflich“, wurde Oksana von ihrem dortigen Professor Ulrich Namislow attestiert, seines Zeichens Spezialist für Buchgestaltung und Kommunikationsgrundlagen. „Das Sujet wird beherrscht von Eros, in Gestalt üppigster, prächtiger Leiblichkeit, Weiblichkeit. Wir begegnen der Alma Mater, der allnährenden Mutter, in bukolischen Szenen, berauschenden Körperchoreographien, kunstvollen Lustgeweben“, so Namislow über die Künstlerin, die seit 2010 deutschlandweit bereits über 60 Einzelausstellungen und Lesungen hatte und 2016 nach Kassel zog, wo sie seither mit zahlreichen künstlerischen Projekten auf sich aufmerksam gemacht hat und mittlerweile über ein beständig wachsendes Netz an Fans, Freunden wie auch wohlwollend Interessierten verfügt. „Wenn ich alleine bin, schreien Engel in mir“, notierte Oksana kürzlich, und einen dieser Schreie hörte offenbar auch Prof. Dr. Ernst Magnus Noah, Chefarzt der Noahklinik Kassel, der sogleich Feuer und Flamme für ihr großformatiges Bild »Verlorenes Paradies« war, das nun in Noahs Klinik für plastische Chirurgie hängt – obgleich die Nasen, Finger und Füße der dort Dargestellten weitab aller Idealproportionen geraten sind, und das ganz bewusst, wie Oksana Kyzymchuk erläutert: „Denn es ist doch eher das Unperfekte, das Raue, Übertriebene, Verzogene, Ironische, Kontrastreiche, das uns reizt, das uns irritiert, das unsere Aufmerksamkeit weckt und unsere Phantasie zum Tanzen bringt.“ www.oksana-kyzymchuk.de Üppige Weiblichkeit: »Sonnige Madonna« (2019)


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