Als Tante Mimi ihren Kleiderschrank öffnete

War Musiklegende John Lennon (1940–1980) im Sommer 1972 unerkannt in Kassel? Besuchte der kunstbegeisterte Ex-Beatle damals das Fridericianum, als während Harald Szeemanns epochaler documenta 5 dort, in der Abteilung „Individuelle Mythologien“, Werke von Yoko Ono ausgestellt waren? Möglich wäre es. Doch selbst über das persönliche Erscheinen oder Nicht-Erscheinen der prominenten Fluxus-Künstlerin und Lennon-Gattin auf der weltgrößten Kunstausstellung sind keine verlässlichen Überlieferungen vorhanden: „Die Akten geben nicht genau Auskunft“, so documenta Archiv-Leiterin Karin Stengel. Ein Umstand, der Tante Mimi vermutlich entzückt hätte. „Soso, Künstlerin sind Sie? Wie lustig, ich habe noch nie von Ihnen gehört!“ Dies seien ihre spöttischen Begrüßungsworte gewesen, als ihr John Lennon um 1968 seine neue große Liebe Yoko Ono vorgestellt habe, gab Mary Smith, besser bekannt als „Tante Mimi“ – die Frau, die John Lennon ab seinem fünften Lebensjahr groß zog, ihm seine erste Gitarre kaufte – 1981 während eines Fernsehinterviews zu Protokoll. Durch eine glückliche Fügung war ich im Sommer 1976 zu Besuch bei Tante Mimi. Und erhielt dabei einige bemerkenswerte Einblicke, deren fotografische Zeugnisse in Jérôme nun erstmals veröffentlicht werden.

1976 nicht an der Wand drapiert, sondern diskret unter Mänteln und Kleidern im Schrank verstaut: die Goldenen Beatles-Schallplatten im Hause von John Lennons Tante Mimi. Foto: Archiv Jan Hendrik Neumann

Ein vager Tipp
Alles begann hoch oben im Norden von Großbritannien, in den Highlands von Schottland. Ausgestattet mit dem damals beliebten InterRail-Pass – für 329 DM konnte man einen Monat lang mit der Bahn kreuz und quer durch Europa reisen, plus Abstecher nach Marokko – war ich gerade in der Jugendherberge von Inverness untergekommen, als bei einem Gespräch in kleiner Runde jemand sagte: „Ich habe von zwei Schwedinnen gehört, dass sie in Poole, in der Nähe von Bournemouth, die Tante von John Lennon besucht haben. Die soll ja ganz nett sein und Besucher aus aller Welt empfangen, einfach so.“ Das war, genau genommen, eigentlich ein ziemlich vager Tipp, ergänzt um die angebliche Adresse. Aber mit 16, die Welt zu Füßen und den InterRail-Pass in der Tasche, zugleich die Verheißung eines spannenden Abenteuers. Also bestieg ich kurzentschlossen den nächstbesten Zug in Richtung Süden und gelangte am 24. Juli 1976 nach Poole, gelegen in der Grafschaft Dorset. Und Tante Mimi war in der Tat nicht sonderlich erstaunt, als plötzlich ein jugendlicher Besucher aus Deutschland an der Tür ihres Anwesens „Harbour’s Edge“, 126 Panorama Road, klingelte und – sich als John Lennon-Fan vorstellend – um Einlass bat.

Jérôme-Redakteur Jan Hendrik Neumann, damals 16, mit der Goldenen US-Schallplatte „Meet the Beatles!“ von 1964. Foto: Archiv Jan Hendrik Neumann

Auf Messers Schneide
„Would you like to have a cup of tea, dear?“, war bereits ihr zweiter Satz, und diesen Tee – einen Earl Grey – bekam ich im Wohnzimmer des luxeriösen Bungalows serviert, den ihr John Lennon 1965, als die „Beatlemania“ gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte, auf der als „Britain’s Palm Beach“ bekannten, nur einen Quadratkilometer großen Millionärs-Halbinsel gekauft hatte, für 25.000 Pfund Sterling. Lennon, dessen leibliche Mutter Julia, Mimis Schwester, 1958 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, kam hier so oft wie möglich zu Besuch, bis er 1971 mit Yoko Ono nach New York zog. Danach offiziell nie wieder nach Großbritannien zurückgekehrt, pflegte John Lennon dennoch weiter ein inniges Verhältnis zu seiner Tante und rief mindestens einmal pro Woche an. Ja, obwohl knapp vier Monate zuvor auch sein Vater gestorben sei, in London, gehe es ihm gut, erzählte mir Mimi daher auf meine Fragen, und nein, an eine neue Platte denke er derzeit nicht. Jetzt habe sein Familienleben, vor allem sein gerade neun Monate alter Sohn Sean, absoluten Vorrang. Was damals nicht zur Sprache kam: Eigentlich stand John Lennons Schicksal zu dieser Zeit auf Messers Schneide. Denn genau zwei Tage später sollte, nach vierjährigem Rechtsstreit, endgültig über seine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in den USA entschieden werden – oder er würde ausgewiesen, als politischer Unruhestifter.

Das Gold der Beatles
Schließlich, nach Sichtung diverser Alben mit Familienfotos und Original-Zeichnungen aus John Lennons Schulzeit, wurde ich zum „Lennon-Zimmer“ geführt, das sich zunächst unerwartet karg präsentierte: Eine Anrichte mit einem Pokal und einem großen Lennon-Foto von etwa 1965 darüber, auf der Wand gegenüber eine silberne Tafel mit Gravur. Das sollte es schon gewesen sein? Meine Hoffnungen schienen sich nicht ganz zu erfüllen. Doch dann geschah es. Als Tante Mimi ihren Kleiderschrank öffnete. Denn da waren sie nun tatsächlich, zwar nicht wie erwartet stolz an der Wand aufgehängt, dafür aber fein säuberlich in der linken Ecke des Schrankes gestapelt und jeweils mit einer Plastikhülle überzogen: die Goldenen Schallplatten der Beatles! Eines Anrufs halber – war es John Lennon selbst? – zog sich Tante Mimi kurz darauf für eine halbe Stunde zurück, und ich durfte ihre Schätze bestaunen und natürlich auch fotografieren: rund 30 Goldene Singles und Langspielplatten, darunter die Auszeichnung für 500.000 verkaufte Exemplare des zweiten Beatles-US-Albums von 1964, „Meet the Beatles!“ – was ich in diesem Moment ja gerade tat.

Eine Autogramm-Karte der Beatles und die Frontansicht von „Harbour’s Edge“. Foto: Archiv Jan Hendrik Neumann

Eine verspätete Überraschung
Auf dem 30 mal 45 Zentimeter großen Aluminiumschild an der Wand stand eingraviert zu lesen: „The guitar is all right as a hobby, John, but you’ll never make a living at it!“ („Gitarre spielen ist ein nettes Hobby, John, aber du wirst dir damit nie dein Brot verdienen können!“). Diese Tafel, mit einer Tante Mimi-typischen Warnung von 1958, hatte John Lennon zwar schon kurz nach den ersten Erfolgen der Beatles anfertigen lassen. In „Harbour’s Edge“ heimlich angebracht, gab er seiner Tante jedoch erst rund ein Jahrzehnt später den Hinweis, dass an der Außenwand ihres Hauses, versteckt hinter einem großen Busch, eine kleine Überraschung auf sie warte. Somit gehörte ich wohl zu den ersten Betrachtern dieses für John Lennons Humor sehr typischen Objekts. Mit Dank und guten Wünschen verabschiedete ich mich schließlich von Tante Mimi, mir erst auf der Rückfahrt nach London richtig darüber im Klaren werdend, was ich gerade erlebt hatte.

Mehr als ein Jahrzehnt hinter einem Busch verborgen: Das Schild mit Tante Mimis kühner Prophezeiung von 1958, die sich glücklicherweise nicht erfüllte. Foto: Archiv Jan Hendrik Neumann

Epilog
Am 8. Dezember 1980 wurde John Lennon in Manhattan ermordet, zwei Stunden nach seinem letzten Telefonat mit Tante Mimi. Diese starb am 6. Dezember 1991, und noch am Tag der Trauerfeier – zur Einäscherung erklang John Lennons „Imagine“ – gab Yoko Ono „Harbour’s Edge“ zum Verkauf frei, 1994 erfolgte dessen Abriss. Das Aluminiumschild mit Tante Mimis Warnung wurde im August 1993 bei Christie’s versteigert, wo es für umgerechnet 1.979 Dollar einen neuen, ungenannten Besitzer fand. John Lennons Kindheit und Jugend mit Tante Mimi – dargestellt von Hollywood-Star Kristin Scott Thomas – wird in dem Spielfilm „Nowhere Boy“ von 2009 widergespiegelt.

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