Schätze brauchen mehr Platz und Schutz

Das documenta Archiv ist als Gedächtnis der Kunstausstellung weltweit gefragt

Nein, die Anfrage aus Tokio ist nichts Besonderes. Kunst- und Kulturwissenschaftler aus der ganzen Welt geben sich im documenta Archiv ebenso die Klinke in die Hand wie nationale und internationale Kunsthistoriker, Filmemacher, Journalisten oder Privatforscher. Denn das Gedächtnis der weltweit bedeutendsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst beherbergt hinter den Kulissen einzigartige Schätze. Auch Kunstwerke zählen dazu. In erster Linie aber sind es Dokumente, Fotos, Dias, Videos in Hülle und Fülle. Allein das Aktenarchiv der documenta Organisation umfasst circa 265.000 Zeitungsausschnitte, über 160.000 Einladungskarten, etwa 2.700 Aktenmappen in 1.070 Archivkartons. Die Bibliothek bietet daneben 30.000 Monographien, 70.000 Ausstellungskataloge, 150 laufende Zeitschriften und Bulletins und das Medienarchiv verwahrt 25.000 Dias, 500 Mittelformatdias, 10.000 Schwarzweißfotos, 1.000 Videobeiträge, 500 Audios und wächst ständig.

Dokumente müssen gesichert werden

Dr. Gerd Mörsch leitet seit September das documenta Archiv. Der Kunsthistoriker, der auch als Autor und Kurator gearbeitet hat, lernte Kassel schon während seiner Mitarbeit an der documenta 13 kennen. Foto: Mario Zgoll

Dr. Gerd Mörsch leitet seit September das documenta Archiv. Der Kunsthistoriker, der auch als Autor und Kurator gearbeitet hat, lernte Kassel schon während seiner Mitarbeit an der documenta 13 kennen. Foto: Mario Zgoll

„Kassel könnte mit dieser Schatzkammer viel mehr wuchern“, appelliert Dr. Gerd Mörsch an die Verantwortlichen. Doch der Kunsthistoriker, der seit September letzten Jahres das Archiv leitet, ist nicht nur stolz auf die umfangreiche Sammlung, sie macht ihm auch Sorgen. Die Akten aus den 50er Jahren, an denen der Zahn der Zeit zunehmend nage, sind sein erstes Anliegen. Sie müssten schnellstens digitalisiert, mit Metadaten versehen und durch Spiegelung auf Servern in anderen Institutionen langzeitarchiviert werden. Die Originale gehörten in ein Depot. Ideal wäre ein Pilotprojekt für die Digitalisierung der documenta 1-Akten sowie solcher der documenta 3–6, die sich im Besitz der MHK befinden. Mit rund 115.000 Euro wäre das zu leisten, zwei bis drei Mitarbeiter wären für ein Jahr vollauf beschäftigt. Aber mit den aktuell 4,5 Stellen festen Stellen ist diese zusätzliche Arbeit nicht zu leisten, es ist viel zu wenig, so Dr. Mörsch.

Hinzu komme, dass das documenta Archiv aus allen Nähten platze. „Selbst die Toiletten sind zum Lager geworden“, zusätzliche Flächen würden dringend benötigt. Nicht nur wegen der Raumnot, sondern auch damit die wertvollen Materialien bei der richtigen Temperatur, Luftfeuchtigkeit und den korrekten Lichtverhältnissen für die Nachwelt aufbewahrt werden könnten, werde ein Archivdepot benötigt. Eine Option sei dafür natürlich ein Neubau irgendwo in der Stadt. Mörsch würde sich aber eher eine Erweiterung des Standorts in der Unteren Karlstraße durch angrenzende Räumlichkeiten wünschen. „Wir sollten neben dem Fridericianum bleiben, so wird auch das kulturelle Zentrum zwischen Königs- und Friedrichsplatz nachhaltig gestärkt“, lautet sein Standpunkt.

Erstes Projekt „Meine documenta“

Eine Fülle an Material steht Historikern und Forschern zur Verfügung. Foto: Mario Zgoll

Eine Fülle an Material steht Historikern und Forschern zur Verfügung. Foto: Mario Zgoll

Dem Nachlass der bedeutenden Kunstausstellung noch mehr Leben einzuhauchen, es zunehmend auch für den Otto-Normal-Bürger interessant zu machen, dient auch sein erstes Projekt „Meine documenta“. Erfahrungen, Erlebnisse und Meinungen von Zeitzeugen hält der Kunsthistoriker, der auch als Autor und Kurator gearbeitet hat, nun auf Video fest. „Ich will das Wissen, das in den Köpfen der Menschen gespeichert ist, sammeln“, beschreibt Dr. Mörsch seine Intention. Weniger Fachkenntnisse, vielmehr persönliche Eindrücke und Herzblut sind ihm dabei wichtig. Auf die Idee habe ihn sein Friseur im Vorderen Westen, begeisterter documenta-Anhänger und erster Zeitzeuge des Projekts, gebracht. In direkter Nachbarschaft wohnt Dr. Gerd Mörsch die Woche über in einer WG, dieselbe übrigens, in der er auch während seiner Mitarbeit an der documenta 13 zu Hause war. Am Wochenende geht’s dann so oft wie möglich zur Familie nach Köln. „Ich stamme aus der Eifel, floh dann aus der Provinz und bezeichne mich heute als Möchtegern-Rheinländer“, erzählt Dr. Mörsch. „Kassel schätze ich sehr und die 100 documenta-Tage verleihen der Stadt echtes Großstadtflair.“

Arbeit für das Archiv gebe es natürlich auch zwischen den Kunstausstellungen genug. Oberstes Ziel sei es, die Dokumente zu sammeln, zu bewahren und der Forschung zur Verfügung zu stellen. Dabei hält Mörsch nichts von rigiden Ausschlusskriterien. „Auch eine Reisequittung kann ein wichtiger Hinweis sein“, erklärt er und setzt hinzu: „Wer bin ich denn, dass ich mir anmaße zu wissen, welche Fragen die Forschenden der Zukunft stellen werden?“ Den persönlichen Kontakt zu den Forschern im Archiv suche er ständig, „weil ich an ihrem Wissen interessiert bin.“ Im Rahmen seiner Tätigkeit selbst zu forschen, sei aktuell leider noch ein Fernziel. Für Führungen stehe er jedoch ebenso wie seine Kollegen stets zur Verfügung. Denn die Bedeutung der Wunderkammer documenta Archiv nach außen zu tragen, dass will er jetzt in erster Linie und begrüßt, dass es nun endlich eine documenta-Professur an der Universität Kassel gibt. Denn in der Vergangenheit gab es selbst Kunstwissenschaftler und -studenten aus Kassel, die das Archiv oft nicht kannten.“

Weitere Informationen unter

http://documentaarchiv.stadt-kassel.de/miniwebs/documentaarchiv/index1.html

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