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www.jerome-kassel.de 19 JÉRÔME STADT scheinbar und leicht zu übersehen, ein kleines, schlicht gerahmtes Foto. Eine Hügelkette ist zu sehen. Unterschrieben in Schreibschrift mit „Arbeitsplatz Dr. Gruhl – Ruanda 1977 – 1982“. Und noch eines dieser winzigen Fotos. Menschen sind darauf zu sehen. Ärzte offensichtlich. Und Krankenschwestern. „Indien, 2013“ steht drauf. Aha. Erst Ruanda, dann Indien Das Wartezimmer hat nicht getrogen, die Legende stimmt offensichtlich. „Ja, ich habe in Ruanda gearbeitet“, sagt der 64-Jährige. Warum aber gerade Ruanda, ein von den Kolonialstaaten geprägtes und später von Bürgerkriegen und Massakern gepeinigtes Land? „Ich stamme aus der 68er-Generation, war auch ein bisschen politisch motiviert, und es war ganz sicher Abenteuerlust und der Gedanke, reisen zu können und dafür auch noch Geld zu bekommen, der mich gereizt hat.“ Aber es waren auch private Gründe, die den damals 27-Jährigen in seinem Entschluss bestärkten. „Ich wollte mit meiner damaligen Frau, einer Portugiesin, die hier bei uns so ein wenig kulturell entwurzelt war, auf neutralem Grund leben.“ So kam es, dass der Arzt in vergleichsweise zartem Alter fünf Jahre lang eine Klinik mit siebzig Angestellten in Ruanda leitete. „Es waren tolle Jahre“, sagt Gruhl. Ein bisschen war es wohl auch der Abenteurer in ihm, der darüber entschied, in Indien zu helfen. Er war gerade Oberarzt in Göttingen, als ihn ein holländischer Kollege anrief und fragte, ob er in Asien mithelfen wolle. Gruhl wollte. Unter dem Dach der Vereinigung Interplast fuhr Gruhl mit einem niederländischen Ärzte-Team für einige Wochen nach Indien, wiederholte diese Arbeitsreise mehrfach. „Mir kam zugute, dass ich drei Jahre lang in Berlin-Kreuzberg Brandverletzte versorgt habe. Da lernt man, mit Menschen umzugehen. Ich packe sehr gern an, und es fühlt sich auch sehr gut an, die unmittelbare Dankbarkeit der Patienten zu spüren.“ Ein sehr unmittelbares Arbeiten sei es in Indien, sagt Gruhl, ohne jede hemmende Bürokratie. Eine sehr wichtige Arbeit war es auch, denn in Indien werden Menschen, die mit körperlichen Fehlern geboren werden, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. So sorgt Interplast durch den Einsatz internationaler Ärzteteams dafür, dass Fehlbildungen, Verbrennungsnarben oder Folgen von Unfällen gerade bei jenen kostenlos operiert werden, die sich eine solche Behandlung finanziell nicht leisten können. Einer zum Anfassen „Wie ich zu all den Dingen, die ich in meinem Leben gemacht habe, gekommen bin, das weiß ich nicht genau. In meinem Lebensweg ist immer alles irgendwie gelaufen. Mir ist immer etwas angeboten worden, ich musste nie wirklich von mir aus eine Entscheidung treffen.“ Es könne sein, überlegt er laut, dass er ein kommunikativer Typ sei, sodass man sich an ihn erinnere. Offensichtlich spielt der Charakter eine Rolle. Gruhl ist Chef in seiner Praxis, ohne jeden Zweifel. Gleichzeitig aber hört er sich genau an, was seine Mitarbeiter zu sagen haben. Er liebt seine Rosen im Garten, liest, und hier kommt das Wartezimmer wieder ins Spiel, viel Historisches. Jegliche Arroganz ist ihm fern, ebenso wie der Drang zur Selbstdarstellung. Eher wirkt der Chirurg wie einer, der in sich selbst ruht, der weiß, wie die Menschen sind und der seinen Frieden damit gemacht hat. „Ich war auch mal Landarzt an der Elbe, so wie der Fernseh Doktor Matthiesen in Deekelsen. Ich war ganz sicher so ein klassischer Landarzt zum Anfassen, und das kommt mir heute zugute.“ Die Rückkehr zu den Möbeln Budenheim. Hamburg. Ruanda. Göttingen. Die Elbe, Berlin und Düsseldorf. Indien. Kassel. Und irgendwann: Der Ruhestand. Gruhl wäre nicht Gruhl, würde er nicht auch darüber mit seinem trockenen Humor lachen können. „Statistisch gesehen sterben viele Ärzte ja an ihrem Schreibtisch. Wenn das geschieht: Na ja.“ Dann wird er wieder ernst. „Mal schauen, was ich dann mache. Meine Praxis wird wohl Frau Doktor Götz übernehmen; sie ist meine Geschäftspartnerin und möchte, dass ich sie noch ein bisschen begleite.“ Einen Ortswechsel strebt der Arzt derzeit nicht an, ist aber für alles offen. „Ich bin ein Bewunderer der Orte, wo ich gerade bin. Kassel ist toll und es ist hier sehr viel besser und schöner geworden in den vergangenen 20 Jahren. Hamburg wäre aber auch denkbar.“ Und vielleicht macht Dr. Lutz Gruhl auch eine Zeitreise, widmet sich wieder seiner alten Liebe, dem, was er als Student gemacht hat. „Wir haben damals Fachwerkhäuser, die die Bauern nicht mehr haben wollten, abgerissen, haben die Einzelteile gelagert, konserviert und weiter verkauft“, sagt Gruhl und schmunzelt, während er sich erinnert. In Zukunft könnten es also Möbel sein, die er restauriert. Menschen hat er in seinem Leben schon genug verschönert. Auszeit ... Willkommen im Urlaub ... www.wimke.de · Ständeplatz 17 · 34117 Kassel · Tel.: 05 61 / 70 72 90


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