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Den Zielen der Aufklärung treu bleiben Um Menschen und Mächte geht es bei den 64. Bad Hersfelder Festspielen. Vor dem Beginn des traditionsreichen Festivals sprachen wir mit Intendant Holk Freytag über die Aktualität des Klassikers Friedrich Schiller, über gesellschaftspolitische Entwicklungen und Etatkürzungen. Jérôme: Herr Freytag, beim Jérôme-Gespräch vor zwei Jahren sagten Sie, dass Ihnen Schillers Gedanke vom Theater als einer moralischen Anstalt nicht fremd sei. In diesem Jahr inszenieren Sie sein Drama „Maria Stuart“. Worin sehen Sie Schillers Aktualität? Holk Freytag: Wenn Sie Zeitung lesen, beispielsweise über die Vorgänge in der Ukraine, dann wirkt das im Grunde genommen fast wie ein Kommentar zu dem, was Schiller geschrieben hat, oder auch umgekehrt: Das Stück wirkt wie ein Kommentar zur Ukraine. Und zwar deshalb, weil es im politischen Bereich immer um Interessenskonflikte und um Machtfragen geht. Die Mechanik 34 www.jerome-kassel.de der Macht wird in diesem Stück beschrieben wie in keinem zweiten, das ich kenne. Jérôme: Das Festspielmotto lautet „Von Menschen und Mächten“ … Freytag: Es spiegelt sich auch in der eigens für die Festspiele geschriebenen Adaption der „Wanderhure“. Das ist ein Thema, das nahtlos an „Der Name der Rose“ anschließt. „Die Wanderhure“ spielt im 15. Jahrhundert, als die Renaissance schon als Morgengrauen am Horizont blinkte: Das Individuum emanzipierte sich und ließ sich nicht länger manipulieren von der Kirche einerseits und den Feudalherren andererseits. Oder nehmen Sie Cole Porters großartiges Musical „Kiss Me, Kate“ nach Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“. Was in den genannten beiden Projekten im politischen Bereich stattfindet, das findet hier im privaten Bereich zwischen Mann und Frau statt. Jérôme: Heute sprechen manche Beobachter der politischen Entwicklung von einer Refeudalisierung der Gesellschaft. Teilen Sie diese Sicht? Freytag: Das sehe ich auch so. Ich halte die gesellschaftspolitische Entwicklung, nicht nur in diesem Land, für besorgniserregend. Auf der einen Seite wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer, und wir werden regiert von supranationalen Mächten. Auf der anderen Seite haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das mich nachgerade aufbringt und zu dem wir schon eine ganze Reihe von Veranstaltungen gemacht haben: dass nämlich der einzelne Bürger das Tollste, das man in der Menschheitsgeschichte errungen hat, die Selbstbestimmung und das Wahlrecht, einfach mit Füßen tritt, indem er nicht mehr zur Wahl geht. Jérôme: Gegen solche Entwicklungen wollen Sie mit Ihrer Theaterarbeit ankämpfen? Freytag: Na klar. Zu dem Schillerschen Ansatz, der ja ein Aufklärungsansatz ist, gibt es für meine Begriffe überhaupt keine Alternative. Abgesehen Interview mit dem Bad Hersfelder Intendanten Holk Freytag Von Georg Pepl JÉRÔME FEUILLETON Intendant Holk Freytag


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