„Die staatliche Handlungsfähigkeit 30 www.jerome-kassel.de JÉRÔME FEUILLETON Haben wir zu viel Staat oder zu wenig? In letzter Zeit in vielen Bereichen zu wenig, meint der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder im Gespräch. Von Volker Schnell Als „Schulversager, Ausbildungsabbrecher“, wie ich immer stolz in die Kurzbio meiner Krimis schreibe, habe ich nie eine Universität von innen gesehen und betrete diese roten Klinkerbauten am Holländischen Platz in der Tat zum ersten Mal. Erster Eindruck: Ruhe. Na ja, noch ist „vorlesungsfreie Zeit“. Schmale Gänge, verschlossene Türen, gelegentlich huscht ein Mensch vorbei. Zunächst müssen wir warten, Professor Schroeder hat noch was zu besprechen. Zeit für einen Blick auf die Pinnwände. Eine Weltkarte aus deutscher Sicht, witzig: In der Mitte „Wir“, in die restliche EU zeigen Pfeile, „unsere Steuern“. Afrika: „Riesenprobleme“; Amerika: „facebook“; Mittelamerika: „Drogen“; Südamerika „Rinder“; Naher Osten: „Probleme“; Indien: „Programmierer“. Woanders zwei Pfeile, der eine zeigt nach links: „Liberdade“, der andere nach rechts: „Paraiso“. Stimmt wahrscheinlich, das Paradies kann nur eine Diktatur sein. Alopecia Areata Dann kommt ein gut gelaunter Mittfünfziger mit Glatze aus einer Tür geschossen und eilt vor uns her zu seinem Büro, Professor Wolfgang Schroeder, das Jackett hat tatsächlich Patches auf den Ellbogen. Ein altes Pressefoto der Uni zeigt ihn noch mit vollem Haarschopf. „Alopecia Areata“, erklärt er fröhlich und buchstabiert, „stellenweiser kreisrunder Haarausfall, das kriegte ich ausgerechnet ab 2008, als ich wegen des Ypsilanti-Koch-Wahlkampfs und den Folgen dauernd im Fernsehen war.“ Wolfgang Schroeder gilt als einer der profiliertesten Politikbeobachter des Landes. Und wenn man regelmäßig vor der Kamera steht und der Kopf Stück für Stück lichter wird ... „Sieht ziemlich dämlich aus, wenn Sie an verschiedenen Stellen so runde Lücken im Haar haben. Irgendwann guckte ich runter auf die rasierten Schädel der Studenten und dachte, ach, zum Teufel.“ Anderthalb Millionen Menschen sollen in Deutschland von diesem eigentümlichen Haarausfall – eine Krankheit ist es eigentlich gar nicht – betroffen sein, deren genaue Ursache niemand kennt. „Ein Mordsgeschäft für die Perückenmacher“, meint Wolfgang Schroeder, „denn Frauen und Kinder haben die Option einer freiwilligen Glatze eher nicht.“ Niedergang des Sozialkatholizismus Seit 2006 ist Schroeder Professor in Kassel, extrem umtriebig war er immer. Unmöglich, alle seine Ämter und Funktionen aufzuzählen, die Publikationen sind in sieben verschiedene Bereiche unterteilt, alles lange Listen. Studiert hat der Katholik aus der Eifel in Marburg, Wien, Tübingen und Frankfurt, in Gießen über den „Niedergang des Sozialkatholizismus“ promoviert, beim Vorstand der IG Metall gearbeitet, das Bistum Mainz beraten, Forschungsaufenthalte und Vorträge haben ihn bis nach Harvard und Tokio geführt. Niedergang des Sozialkatholizismus. Die Caritas und das Kolpingwerk gibt es doch noch? „Schon, aber ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es katholische Gewerkschaften, das Zentrum als katholische Partei, diverse Institutionen, in denen der katholische Mensch von der Wiege bis zur Bahre eingebunden und umsorgt war. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten viele das alles wieder aufbauen, aber sie haben den Kampf verloren, es ist alles im DGB und den überkonfessionellen Unionsparteien aufgegangen. Enttraditionalisierung und Säkularisierung nennt man das auch.“ Disparität immer Hauptproblem Geschichte ist ein Bereich, mit dem der Politikwissenschaftler sich beschäftigt, denn „alles, was wir über die Gegenwart und die Zukunft aussagen können, geht nur über Beschäftigung mit Geschichte, alles andere ist Glasperlenspiel.“ Sein Buch „Politik und Regieren in Hessen“ ist gerade erschienen, eine politische Geschichte unseres vor 70 Jahren von den Amerikanern geschaffenen ersten Bundeslandes. „Hier wurde auch die erste deutsche Verfassung nach dem Krieg angenommen, der hessische Staatsgerichtshof war Vorbild für das Bundesverfassungsgericht, und die erste deutsche Kommunalverfassung kam auch aus Hessen. Das Hauptproblem dieses Landes war immer die Disparität zwischen dem Norden und der Mitte einerseits und dem Süden andererseits. Norden und Mitte machen 65 Prozent der Fläche aus, aber nur 38 Prozent der Bevölkerung, 34 Prozent der Erwerbstätigen und sogar nur 30 Prozent der Wertschöpfung. Auf der anderen Seite war der Norden personell höchst erfolgreich. Georg August Zinn, Holger Börner, Hans Eichel: Alle aus Kassel.“ Und alle Sozialdemokraten. ... und die wird natürlich eingeschränkt, wenn überall dauernd nur gespart und Personal abgebaut werden soll. Sorgen für die nächste Zukunft hat der Leiter des Fachbereichs „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ an der Kasseler Uni aber nicht. Foto: Mario Zgoll muss erhalten bleiben“
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