Kassels Verkehr auf dem Prüfstand: Baudezernent Christof Nolda im Interview
Jérôme: Die Stadt Kassel will einen neuen kommunalen Verkehrsentwicklungsplan für die nächsten 15 bis 20 Jahre aufstellen. Welche übergeordneten Ziele spielen dabei eine maßgebliche Rolle?
Christof Nolda: Es geht darum, wie wir das Wohnen und Arbeiten, das Einkaufen und die Freizeitmöglichkeiten in Kassel in der Zukunft organisieren. Kassel soll sich wirtschaftlich weiter so dynamisch entwickeln. Kassel soll gleichzeitig auch eine Stadt bleiben, in der die Menschen gerne wohnen und ihre Freizeit verbringen.
Jérôme: Grundlage werden umfangreiche Analysen des Verkehrs per Kfz, Rad, Fuß und ÖPNV sein. Wie stellt sich die Situation zurzeit dar?
Nolda: Die Kasseler legen bereits viele Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit Bussen und Bahnen zurück: 57 Prozent. Mit dem Auto werden in Kassel 43 Prozent der Wege zurückgelegt. Im Bundesdurchschnitt sind es 58 Prozent, die mit dem Auto gefahren werden. Der Kfz-Verkehr in Kassel wird allerdings zu einem großen Teil auch vom Verkehr aus dem Umland geprägt. Jeden Werktag pendeln 75.000 Menschen nach Kassel ein.
Jérôme: Prognosen für das zukünftige Leben, Arbeiten und Wohnen sind ebenfalls zu berücksichtigen. Welche spezifischen Zukunftsszenarien sind das für Kassel?
Nolda: Wir haben im vergangenen Jahr mit intensiver Beteiligung der Menschen neun Leitziele entwickelt. So soll die Stadt zum Beispiel aus dem Umland noch besser erreichbar werden, indem die Verbindungen mit Bussen und Bahnen verbessert werden. Wir wollen die Zahl der Unfälle mit Schwerverletzten und Toten deutlich reduzieren. Und die Straßen und Plätze so attraktiv gestalten, dass sie nicht nur dem Fortkommen der Autofahrer dienen, sondern sich die Menschen dort auch gerne aufhalten. Nehmen Sie als Beispiel die umgestaltete Goethestraße. Wir wollen, dass die Gewerbe- und Handelszentren in der Stadt gut erreichbar sind, müssen aber die in Kassel wohnenden und arbeitenden Menschen auch vor Abgasen und Verkehrslärm schützen.
Jérôme: Wo ist Kassel bereits gut aufgestellt, wo sind die größten Schwachstellen?
Nolda: Kassel verfügt über ein dichtes und leistungsfähiges Straßennetz. Wir haben bereits einen sehr guten und leistungsfähigen ÖPNV – das haben wir auch beim Hessentag gesehen. Viele Menschen fahren täglich mit Bus oder Tram zum Arbeitsplatz oder zur Schule. Wir haben allerdings auch viel Autoverkehr, der die Innenstadt durchquert. Das Radwegenetz ist – gerade entlang der Hauptstraßen – noch lückenhaft.
Jérôme: Welche wichtigsten Aufgaben ergeben sich daraus?
Nolda: Wir wollen erreichen, dass noch mehr Menschen den Umweltverbund nutzen. Also mit Bussen und Bahnen fahren, zu Fuß gehen und Fahrrad fahren. Dazu muss das Radwegenetz ausgebaut werden. Denn gerade durch den Boom der Elektrofahrräder besteht die Chance, dass noch mehr Menschen als bislang auch im hügeligen Kassel mit dem Fahrrad fahren. Beim ÖPNV haben wir im Bereich des Freizeit- und Einkaufsverkehrs noch ungenutzte Potenziale. Und letztlich muss, auch wegen der alternden Gesellschaft, die Barrierewirkung vieler Straßen reduziert werden. Es muss Fußgängern leichter fallen, von einer Straßenseite zur anderen zu kommen.
Jérôme: Die Bürger sollen mitwirken. Wie wird diese Kooperation aussehen?
Nolda: Wir haben 2013 zusammen mit vielen Bürgerinnen und Bürgern in fünf Workshops die neun Leitziele für die Verkehrsplanung entwickelt. Im Mai wird es fünf weitere Bürgerversammlungen geben. Dabei werden wir die inzwischen von den Experten erarbeiteten Vorschläge diskutieren, mit welchen Maßnahmen die Leitziele erreicht werden können.
Jérôme: Der Verkehrsentwicklungsplan wird Investitionen zum Ergebnis haben, aber der finanzielle Spielraum der Stadt auch eng bleiben. Wie sollen diese Kosten gestemmt werden?
Nolda: Der Verkehrsentwicklungsplan wird die Grundlage sein für unsere verkehrspolitischen Entscheidungen in den kommenden 15 Jahren. Es gilt, das zur Verfügung stehende Geld klug so einzusetzen, dass wir ein zukunftsfähiges Verkehrssystem für eine moderne und lebenswerte Großstadt wie Kassel gestalten.
Jérôme: Ein Blick in die Glaskugel: Was fällt einem Kasseler, der heute nach Übersee auswandert und 2030 das erste Mal zurückkehrt, als erstes am städtischen Verkehr auf?
Nolda: Er wird feststellen, dass die meisten Menschen nicht mehr nur ein Verkehrsmittel nutzen. Stattdessen werden sie alle zur Verfügung stehenden Fortbewegungsmittel klug miteinander kombinieren – je nachdem, wie sie ihren Weg am schnellsten, bequemsten und umweltfreundlichsten zurücklegen können.