Lohn der Angst – Die Schreckensfotos des Enrique Metinides

Angst, unbeschreibliche Angst, ist der Schlüssel: Aus dem fünften Stock kopfüber in die Tiefe hängend, in seinen Ohren das grausame Gejohle der drei Nachbarsjungen, deren Hände seine Beine umklammert halten – noch – erlebt Enrique Metinides bereits als kleiner Junge die längste Viertelstunde seines Lebens, dabei in jeder Sekunde den eigenen Tod greifbar vor Augen. Ein aus dem Nichts alles verändernder Albtraum, zumal für ein Kind. Traumatisiert von dieser Grenzerfahrung, sucht Metinides, geboren 1934 in Mexiko-Stadt als Sohn einer aus Griechenland eingewanderten Kaufmannsfamilie, fortan immer obsessiver die Nähe der Gefahr, des Unglücks, des Todes und wird damit schließlich zu einem der bekanntesten Fotografen seines Landes. Das Kasseler Museum für Sepulkralkultur zeigt, gemeinsam mit dem Kasseler Fotoforum, bis zum 4. September eine Auswahl von 70 Aufnahmen aus dem umfangreichen „Werk des Schreckens“ von Enrique Metinides.

Mit einer Aufnahme von Enrique Metinides, die ein zusammengestürztes Hotel zeigt: (v.l.) die mexikanische Kuratorin Veronique Ricardoni, der Fotograf Michael Wiedemann (Kasseler Fotoforum), der stellvertretende Direktor des Museums für Sepulkralkultur Gerold Eppler und der mexikanische Galerist Rodrigo Espinosa (Garash Gallery). Foto: Mario Zgoll

Mit einer Aufnahme von Enrique Metinides, die ein zusammengestürztes Hotel zeigt: (v.l.) die mexikanische Kuratorin Veronique Ricardoni, der Fotograf Michael Wiedemann (Kasseler Fotoforum), der stellvertretende Direktor des Museums für Sepulkralkultur Gerold Eppler und der mexikanische Galerist Rodrigo Espinosa (Garash Gallery). Foto: Mario Zgoll

Dessen Karriere beginnt mit einem abgetrennten Kopf, an den Haaren in die Kamera gehalten. Metinides entdeckt ihn als Zwölfjähriger neben den Bahngleisen, bannt das schaurige Objekt mit kalter Präzision auf den Film seiner „Browning Junior Six-16“ und bietet das Foto einer Zeitung an. Die druckt es sofort und verhilft ihm damit zu seinem Spitznamen, den er bis auf den heutigen Tag trägt: „El Niño“ – das Kind. Ein ungewöhnlich stilles Kind, das ohne Freunde aufwächst und schon damals am liebsten Unfallfotos macht. Zudem legt „El Niño“ dicke Mappen mit entsprechenden Zeitungsfotos an, die in Mexiko einen ganz besonderen Stellenwert haben: Als Motiv für die „Nota Roja“ – die „Rote Notiz“ – der Titelseite, die „Leichen des Tages“. Diese Toten schützt in Mexiko kein Persönlichkeitsrecht, „als Teil der Populärkultur dürfen sie abgebildet werden“, wie Veronique Ricardoni, die mexikanische Kuratorin von Enrique Metinides, gegenüber Jérôme erläutert.

Getötet bei einem Verkehrsunfall: die mexikanische Schriftstellerin Adela Legarreta Rivas. Dieses Bild hängt heute, gemeinsam mit drei weiteren Todesfotos von Metinides, im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Foto: Mario Zgoll

Getötet bei einem Verkehrsunfall: die mexikanische Schriftstellerin Adela Legarreta Rivas. Dieses Bild hängt heute, gemeinsam mit drei weiteren Todesfotos von Metinides, im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Foto: Mario Zgoll

Mit diesem Risiko hat die Schriftstellerin Adela Legarreta Rivas im April 1979 gerade einen Schönheitssalon verlassen und ist auf dem Weg zu einem Fernsehinterview, als sie zwischen zwei Autos gerät und zerschmettert am Straßenrand liegen bleibt. Noch bevor Notfall-Sanitäter sie bedecken können, ist „El Niño“ – selbst ausgebildeter Ambulanzhelfer, nur um als Erster am Unfallort zu sein – zur Stelle und schießt sein wohl berühmtestes Motiv. Zugleich macht er Adela Legarreta Rivas damit unsterblich, über deren Leben und Werk sich im Internet heute fast nichts mehr findet – wohl aber hundertfach das makabre, wie inszeniert wirkende Foto ihres toten Körpers, das 2004 sogar in die Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) aufgenommen wird.

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