Kasseler Bürgerpreis für eine Weltliteratin
29. Träger der Auszeichnung »Das Glas der Vernunft« ist die 1977 in Nigeria geborene, international erfolgreiche Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie, deren Werke – trotz klarer politischer Positionen – immer vieldeutig und vielschichtig angelegt sind.
Chimamanda Ngozi Adichies literarische Poetik ist ein Frontalangriff auf die Kultur des Verdrängens, und niemand ist vor ihrer genauen Wahrnehmung sicher.“ Jener „subtilen Präzision“, wie sie ihr Ijoma Mangold, Literaturkritiker der Wochenzeitung DIE ZEIT, nur kurz zuvor in seiner literarischen Laudatio bescheinigt hatte, blieb die international gefeierte Autorin auch auf der Bühne im vollbesetzten Opernhaus des Kasseler Staatstheaters treu: „Diesen Preis nehme ich mit sehr großer Dankbarkeit entgegen“, ließ Adichie ihr Publikum wissen. „Und obwohl ich ihn als Feministin bekommen habe, sehe ich mich doch vor allem als Autorin.“ Als solche sei sie, so Laudator Mangold, „eine der machtvollsten Stimmen der zeitgenössischen Weltliteratur“, allein ihre Romane »Blauer Hibiskus«, »Die Hälfte der Sonne« und »Americanah« wurden in 37 Sprachen übersetzt. Dieser Erfolg, wie der ZEIT-Kritiker erläuterte, „hat offenkundig etwas damit zu tun, dass sie zwei Talente zusammen-bringt, die sich oft beißen: Politisches Kämpfertum und echte literarische Ambivalenz-Offenheit.“ So könne die Preisträgerin Sätze abfeuern, die die politischen Leidenschaften mobilisieren, und doch sei jede Seite ihrer Bücher von einem unerhörten Sinn für Zweideutigkeit und Ambiguität durchdrungen.
Die Wahrnehmung schärfen
„Literatur, wie Adichie sie hervorbringt, ist niemals Agitprop. Sie betreibt keine Komplexitätsreduktion, sondern immer Verkomplizierung.“ Denn je genauer man die Welt anschaue, desto vieldeutiger und vielschichtiger schaue diese zurück. Und dennoch gehöre Adichie nicht zu den „vornehmen Geistern“, denen angesichts der Komplexität der Verhältnisse jeder eigene politische Standpunkt in den Händen zerfalle. Beispielhaft führte Ijoma Mangold die Erzählung »Zelle 1« aus Chimamanda Ngozi Adichies Erzählband »Heimsuchungen« an, wo es der Autorin gelungen sei, bereits im ersten Satz mit einem raffinierten Einstieg samt „leichter Verschiebung ins Überraschende“ unter anderem präzise über den Stand der Medientechnologie, den kulturellen Kanon und die Klassenlage der Akteure zu informieren. »Gewalt in Afrika« sei zwar die denkbar schnellste Gedankenassoziation, „aber irgendwie passiert hier gerade etwas Anderes, irgendetwas ist leicht verschoben. Und es ist diese Verschiebung, die unsere Wahrnehmung schärft: Wir schieben die Stereotypien zur Seite – und wollen es nun wirklich genau wissen.“ Mit Chimamanda Ngozi Adichie werde daher vor allem eine Autorin geehrt, die wie keine zweite „die Geschichten, die wir mit Afrika verbinden, vermehrt hat“, ihnen Vielfalt und Komplexität gegeben habe, und deren Erzählungen „in sich selbst vor Vieldeutigkeit und Bedeutungsüberschuss schillern.“