„Das Glas der Vernunft“ für Avi Primor
So viele Jubiläen: 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs, 50 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, 40 Jahre Deutsch-Israelische Gesellschaft in Kassel, 25 Jahre Städtepartnerschaft zwischen dem bei Tel Aviv gelegenen Ramat Gan und Kassel – und 25 Jahre „Das Glas der Vernunft“. Der Preisträger 2015: Avi Primor, Diplomat und Publizist, von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland.
„Dass ausgerechnet in diesem Jahr ein nimmermüder Friedensaktivist und Aussöhner den Kasseler Bürgerpreis erhält, ist zweifelsfrei kein Zufall“, erkannte anlässlich der Preisverleihung im vollbesetzten Opernhaus des Kasseler Staatstheaters auch Kassels Oberbürgermeister Bertram Hilgen und stellte fest: „Kaum ein anderer hat sich in der jüngeren Vergangenheit so um die deutsch-israelische Verständigung verdient gemacht.“ Große persönliche Glaubwürdigkeit und Authentizität zeichneten Avi Primor aus, weil er stets seiner Überzeugung folge, dass Ehrlichkeit und Offenheit unabdingbare Elemente von Dialog seien, auch freundschaftlichem Dialog, so Hilgen. „Dies und die Haltung, dass Toleranz, Respekt und Menschlichkeit die Brücke zwischen Menschen und Völkern sein müssen, prägt ihn und seine politische und gesellschaftliche Arbeit nachhaltig, und insofern verkörpert er die Werte des Glases der Vernunft in ganz beispielhafter Weise.“ Als Visionär bezeichnete ihn Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, „und der Visionär unterscheidet sich vom Illusionisten dadurch, dass er das, was von manchen für unmöglich gehalten wird, immer wieder angeht, mit Mut, mit Kraft, manchmal auch mit langem Atem, und genau so verstehe ich das, was Avi Primor zum Beispiel auch leistet zwischen Israelis und Palästinensern“.
An Visionen glauben
Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, bescheinigte dem Preisträger „eine Fähigkeit zur Charmeintelligenz“, und weiter: „Er hat sein Land verkörpert mit einem freundlichen Wesen, einer sehr offenen Art, einem lebensklugen, feinsinnigen Humor, der auch bei schwierigen, bei schwerwiegenden und konfliktträchtigen Themen seiner Analyse immer eine gewisse Leichtigkeit verleiht.“ Abdallah Frangi, jahrzehntelang offizieller Vertreter der Palästinenser in Deutschland und seit Juli 2014 Gouverneur von Gaza, engagiert sich gemeinsam mit Avi Primor seit den frühen 90er Jahren für die sogenannte „Zwei-Staaten-Lösung“, mithin die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967, mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Gemeinsam erhielten sie dafür 2013 den Erich Maria Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück verliehen. „Es bedarf wirklich viel Kraft und Überzeugung, um noch an Visionen zu glauben“, so Frangi. „Aber genau das verbindet mich mit Avi Primor.“ Der Journalist und Fernsehmoderator Dieter Kronzucker stellte in den Mittelpunkt seines Festvortrages „Abraham und Ibrahim – Ein Anfang und kein Ende“ das friedliche Nebeneinander, die Convivencia, wie sie der Islam vor allem in seiner Hochblüte bewiesen habe: „Im Kalifat von Cordoba, um die Jahrtausendwende eine der größten Städte der Welt, diskutierten jüdische, muslimische und christliche Gelehrte Philosophie und Religion, Architektur und Medizin.“ Dass die Convivencia auch heute noch aktuell sei, zeige die Aussöhnung zwischen Deutschland und Israel, an der Avi Primor, als Diplomat, Politiker und Mensch so großen Anteil habe. „Er versteht sich auf die Kunst des Zusammenlebens, der Convivencia, einst verfeindeter Völker und Kulturen.“
Beispielhafte Initiative
Prof. Dr. Hansjörg Melchior, in diesem Jahr letztmals Vorstandsvorsitzender des von ihm mitgegründeten Vereins der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises, hatte es sich, in Begleitung seiner Frau Karin, nicht nehmen lassen, den an einer persönlichen Entgegennahme gehinderten Preisträger eine Woche vor der Preisverleihung in Ramat Gan aufzusuchen und ihm die Das Glas der Vernunft-Urkunde zu überreichen. In dieser heißt es: „Beispielhaft hat er im Jahr 2004 ein Zentrum für europäische Studien in Zusammenarbeit mit Universitäten in Palästina und Jordanien gegründet, um zwischen den Studenten aus der Krisenregion des Nahen Ostens persönliche Beziehungen aufzubauen.“ Stellvertretend für seinen Vater nahm David Primor in Kassel die von Prof. Karl Oskar Blase entworfene Glasskulptur entgegen und betonte in seiner Rede: „Um eine echte Partnerschaft zwischen den Völkern zu schaffen, müssen zuerst alle Völker der Region in Würde leben und miteinander auf Augenhöhe kooperieren. Mein Vater ist zu der Schlussfolgerung gekommen, dass man den Regierungen und Politikern so etwas alleine nicht zutrauen kann“ – was ihm spontane Ovationen aus dem Publikum bescherte.