dOCUMENTA (13)-Pressesprecherin Henriette Gallus im Interview
Jérôme: Der Countdown für die dOCUMENTA (13) läuft. Die Weltkunstausstellung startet am 9. Juni. Wie groß ist die Nervosität hinter den Kulissen?
Henriette Gallus: Nervosität kann ich im Team eigentlich keine beobachten. Es ist eher das Tempo, das sich jeden Tag erhöht. In den verschiedenen Abteilungen kann man den Boden langsam beben fühlen – die Schlagzahl der Anfragen erhöht sich täglich. In der kuratorischen Abteilung laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren, die Kommunikation mit den Künstlern wird immer intensiver, viele kommen bereits jetzt nach Kassel, um hier vor Ort zu arbeiten. Das erhöht natürlich auch das Tempo in der Abteilung, die auf die Installation spezialisiert ist, und auch auf unsere Logistik und Verwaltung. Aber die Zusammenarbeit konnte sich in den letzten Monaten etablieren und festigen, die Abläufe werden immer runder, auf die Kollegen kann man sich immer verlassen, das ist sehr wichtig – und verhindert Panik und Nervosität.
Jérôme: „Zusammenbruch und Wiederaufbau“ soll eines der Leitmotive sein, das sich auch in der Geschichte Kassels angesichts der starken Zerstörung im Zweiten Weltkrieg widerspiegelt. Auch vor diesem Hintergrund will documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev die Stadt stärker in die documenta einbinden. Wie soll das geschehen?
Henriette Gallus: Grundsätzlich steht diese documenta nicht nur unter einem Leitmotiv oder Konzept. Die künstlerische Leiterin ist interessiert an Ideen und Bedeutungszusammenhängen, denen sich verschiedene Künstler und andere Teilnehmer mit künstlerischer Recherche nähern. Gegen eine thematische Festlegung würde sich Carolyn Christov-Bakargiev aus verschiedenen und guten Gründen wehren, dafür sind die Überlegungen jedes einzelnen eingeladenen Künstlers zu komplex und vielschichtig.
Dennoch stimmt es, dass Kassel stärker als jemals zuvor in die Ausstellung einbezogen werden wird. Details kann ich keine preisgeben, dennoch kann man sich auf zahlreiche und auch ungewöhnliche Ausstellungsorte freuen. Viele davon sind Orte, die aus einem jahrzehntelangen Schlaf aufwachen werden. Carolyn ist eine Expertin darin, Zwischenwände aufzuspüren und zu fragen, was dahinter verborgen ist. Von dieser Neugier wird Kassel meiner Meinung nach profitieren.
Jérôme: Worldly companions, sprich weltgewandte Begleiter, werden die Besucher zu den Kunstwerken führen. Das sollen ganz normale Kasseler Bürger sein. Rund 700 haben sich beworben, 100 werden benötigt. Wie wichtig ist den documenta-Machern das Engagement der Menschen vor Ort und wie erleben sie es bislang?
Henriette Gallus: Das Engagement der Menschen in und um Kassel ist atemberaubend. Bereits an unserem ersten Tag haben mein Kollege Terry Harding und ich das bemerkt: die Kasseler Bürger sind mit der documenta unheimlich verbunden, fast leidenschaftlich. Das macht uns die Arbeit wesentlich leichter, denn wirkliche Begeisterung vermittelt sich von Mensch zu Mensch. Alle Kasseler, ob nun Worldly Companion oder nicht, werden von uns als documenta-Botschafter gesehen. Bernd Leifeld, CEO der documenta, empfindet den Besucher sogar als unseren wichtigsten Botschafter – und übrigens auch als den wichtigsten Sponsor.
Jérôme: 750 000 Besucher lockte die documenta 12 in 2007 nach Kassel. Ist das Publikumsinteresse der alleinige Gradmesser für den Erfolg oder die Qualität einer documenta?
Henriette Gallus: Das kann man sicher verschiedentlich betrachten. Natürlich muss sich eine Ausstellung wie die documenta finanzieren, dafür ist reger Publikumsverkehr unverzichtbar. Der alleinige Gradmesser für den Erfolg einer Ausstellung ist er aber sicher nicht. Schon gar nicht für die Qualität. Viele Ausstellungen erfahren erst Jahre später ihre Würdigung, dasselbe gilt für die Literatur, Musik und anderen Künste gleichermaßen. Daher scheint mir der kommerzielle Erfolg nicht das entscheidende Kriterium für Qualität zu sein.
Jérôme: Welche Bilanz würden Sie gern nach den 100 Tagen ziehen?
Henriette Gallus: Ich würde gern auf eine documenta zurückblicken, die ein sinnliches, erfahrbares und komplexes Erleben von Kunst und Ideen möglich gemacht hat, Menschen zusammengebracht und in einen Dialog über das Hier und Jetzt verstrickt hat, ein Nachdenken über den Status quo provoziert. Ich hoffe, dass die dOCUMENTA (13) und wir alle hier einen Fußabdruck hinterlassen werden – einen, der hoffentlich ein Ausgangspunkt zu etwas Neuem sein wird.