Ein Aprilscherz habe sie eingeleitet, die Karriere von Kassels Gastronomie-Legende Toni Nadalet („da bruno“, „Marco’s Bar“): „Am 1. April 1966 bin ich, mit dem Zug aus Verona kommend, im Hauptbahnhof von Kassel eingefahren.“ Sein Ziel in der nordhessischen Metropole: die Henschel-Werke. Denn von Haus aus ist Antonio „Toni“ Nadalet eigentlich diplomierter Maschinenbautechniker. „Nach dem Studium war es ursprünglich mein Wunsch, in meinem Beruf zunächst möglichst viele internationale Erfahrungen zu sammeln: Ein bis zwei Jahre in Deutschland, ein bis zwei Jahre in England, dann vielleicht noch ein bis zwei Jahre in Frankreich“, berichtet der beliebte Gastronom, der in Kassel jedoch erst einmal auf etwas kleinerer Stufe einstieg: „Die Firma Henschel suchte damals mit Einjahresverträgen Facharbeiter, und während meines Studiums hatte ich ja bereits mehr als ausgiebig mit Drehbank, Schneidemaschine und Fräse gearbeitet.“
Die Sache kommt ins Rollen
Toni Nadalets Kassel-Aufenthalt wäre bereits nach einem Jahr beendet gewesen, hätte er nicht zwischenzeitlich seine Bowling-Leidenschaft entdeckt: „Innerhalb von drei Wochen war ich der beste Bowlingspieler Kassels und hatte sogar den damaligen Champion Bruno Ortolano, vom Restaurant ’da bruno’ am Königsplatz, gleich zweimal hintereinander geschlagen.“ Der habe ihm daraufhin gesagt: „Mit Dir spiele ich nicht mehr!“, ihn jedoch schon bald darauf um seine Unterstützung beim Betrieb des „da bruno“ gebeten. Toni Nadalet: „Da wollte ich erstmal nur helfen, aber so startete unversehens meine gastronomische Karriere.“ Dass er auch hier schnell großes Talent bewies, führt Nadalet auf den nachhaltigen Einfluss seines Papas zurück: „Mein Vater Benjamino war Witwer und hat immer für mich und meinen Bruder gekocht.“ Ein „verrückter Hund“ sei das gewesen, „Er sagte zu jeder Frau ’Bionda’ und zu jedem Mann ’Giorgio’, weil er sich keine Namen merken konnte.“ Der Inspiration durch seinen Vater verdanke er auch sein gastronomisches Motto: „Fünf Sterne von drei möglichen!“
Gott und die Welt beim Carpaccio
Es war wohl das von Toni Nadalet verbreitete besondere Flair, sein zumal für nordhessische Verhältnisse ungewohnt freundlich-herzlicher Umgang mit seinen Gästen, der das „da bruno“ daraufhin schnell zur Anlaufstätte auch für prominente Gäste machte. Nadalet: „Ich habe dort Gott und die Welt kennengelernt – alle waren da!“ Daraus hätte man, etwa für den Wandschmuck, leicht Kapital schlagen können, „aber ich bin keiner, der Autogramme sammelt“, so der Gastronom, der seinem hausgemachten Carpaccio lächelnd „Weltklasse!“ bescheinigt. Gäste, die sich dieser Meinung offenbar anschlossen, waren unter anderem die Schauspieler Judy Winter – „Mit der haben wir die ganze Nacht gepokert“ – und Reiner Schöne, die Opernsänger Anna Moffo und Giuseppe Di Stefano, Opernregisseur Giancarlo Del Monaco, „alle documenta-Künstler, darunter Jörg Immendorff, von dem kriege ich immer noch ein Bild“ und „alle documenta-Macher – von Rudi Fuchs und Jan Hoet bis Harry Szeemann, der war ein sehr, sehr guter Freund.“
Immer ein offenes Ohr für Paul
Joseph Beuys habe sich jeden Tag ein „dickes, großes Steak“ bestellt, sei aber für Nadalets weitere kulinarische Verführungskünste nicht zugänglich gewesen: „Als ich ihm stattdessen einmal drei kleine Filets zubereitet habe, ließ er das Ganze einfach zurückgehen mit den Worten: Was soll das denn …?!“ Auch documenta-Gründer Arnold Bode und sein Architekten-Bruder Paul seien regelmäßig im „da bruno“ eingekehrt, berichtet Toni Nadalet: „Paul war ebenfalls ein sehr guter Freund, der immer viel zu erzählen hatte. Kaum betrat er das Lokal, riefen die Kellner: Herr Bode ist da!, und dann musste ich auch gleich kommen.“ Als Hans Eichel noch Lehrer war, habe dieser im „da bruno“ immer Pizzabrot und eine Cola bestellt, „als Oberbürgermeister hieß es dann: Eine Pizza Quattro Stagioni und ein Bier!“ Seine Gäste hätten ihm immer die Treue gehalten, wie etwa der Künstler Christo, „den ich – wir hatten uns 30 Jahre nicht gesehen – wiedertraf, als ihm im Jahr 2000 der Kasseler Bürgerpreis ’Das Glas der Vernunft’ überreicht wurde. Er trat auf mich zu und sagte: Toni, well, here I am again!“
Nachrichtenzentrale der Haute-Volée
Im „da bruno“ sei auch das Anzeigenblatt „Extra Tip“ geboren worden: „Hartmut Benderoth kam zu mir und sagte: Ich habe da so eine Idee, so-so-so, was hältst Du davon? Und ich antwortete ihm: Mach’ das mal, die Leute sind neugierig.“ Vielleicht wäre aus dieser Idee nicht ganz soviel geworden, hätte der spätere ET-Chefredakteur Klaus Becker seine eigentlichen Pläne realisieren können, von denen Nadalet natürlich schnell erfuhr: „Der Klaus wollte 1982 – nachdem er zuvor schon zweimal documenta-Pressesprecher war – unbedingt documenta-Geschäftsführer werden“, dieser Job sei dann jedoch an Klaus Angermann gegangen, „mit dem habe ich immer Tennis gespielt.“ Tennis – eine weitere große Leidenschaft des großen Gastronomen, der 1996, nach knapp 30 Jahren, das „da bruno“ gegen den Szene-Treff „Marco’s Bar“ in der Königsgalerie tauschte, „die Nachrichtenzentrale der Stadt“. 15 Jahre währte deren Zeit, tummelte sich hier die Haute-Volée Kassels, bis Toni Nadalet 2011 dort überraschend seine Zelte abbrach – einer ernsten Erkrankung halber.
Wie der Künstler auf der Bühne
Seit Mai 2012 ist der menschenfreundliche Lokal-Matador nun wieder mit „Marco’s Bar“ zurück, jetzt ganz in der Nähe des Bebelplatzes gelegen: „Das ist mein neues Wohnzimmer.“ Auch er selbst habe sich verändert, sei ein ganz anderer Mensch geworden, äußerlich („14 Kilo abgenommen!“) wie vor allem innerlich: „Ich fühle mich wie neugeboren. Es ist Freude pur, jeden Tag arbeiten zu dürfen – und das Leben ist schön!“ Sein Dank gelte vor allem den vielen Leuten, die ihm während seiner Krankheit ihre Freundschaft gezeigt hätten. Nun gehe es mit neuem Schwung weiter. „Ich war lange weg und das war grausam für mich, denn ich bin wie der Künstler auf der Bühne: Ich brauche den Applaus“, so der stolze Vater seiner beiden Söhne Marco und Roberto wie auch treuergebene Gatte seiner Ehefrau Elfi, die er in Kassel kennenlernte und 1968 vom Fleck weg heiratete: „Damals war sie die Schönste der Stadt.“ Schönheit, die für ihn jedoch nie vergeht und sich auch sonst in mehr als nur dem Spiegelbild findet: „Meine Mitarbeiter gucken immer, wenn ich ältere Gäste küsse. Dann sage ich: Glaubt mir, die sahen alle mal verdammt gut aus!“