Endlich, endlich – und das lange Warten hat sich offensichtlich gelohnt. Dank Carolyn Christov-Bakargiev, der sich seit ihrer Wahl im Dezember 2008 – gleichsam wie Henry Kissinger unter anderen Vorzeichen – unermüdlich im weltweiten Vorbereitungs-Einsatz befindlichen künstlerischen Leiterin der 13. documenta, trifft sich nach fünf Jahren nun die gesamte kunstinteressierte Welt erneut in Kassel, in der gespannten Erwartung, hier ab dem 9. Juni für weitere 100 Tage mit einer aktualisierten, wie immer völlig subjektiv akzentuierten Zwischenbilanz des globalen Kunstgeschehens konfrontiert zu werden. Ein wohl von vielen als realistisch empfundenes Ziel dieser nicht nur das Abstraktionsvermögen am konkreten Beispiel schulenden Übung: im wild wuchernden Dschungel zunehmend als disparat empfundener Kunst- und Kulturerscheinungen, deren mediale Vergegenwärtigung heute maximaler denn je zuvor möglich ist und doch weitgehend individuell stattfindet, überdies gefangen in der Freiheit – und zugleich Agonie – der Absenz im Konsens agierender Interpretationshoheiten, zumindest temporär einen gemeinsam als verbindlich empfundenen Kulminationspunkt des Diskurses zu teilen.
Wille und Vorstellung
Dieser darf dann dementsprechend – als Mega-Event drappiert seine Finanzierung angemessen forcierend – auch ohne äußere Zwänge und mit einer gewissen, im Zweifelsfall jeden üblichen künstlerischen Rahmen sprengenden Extravaganz gewählt sein. Speziell hierin liegt – dabei die Konkurrenz der weltweit explodierenden Biennalen, mit ihrem oft bloßen Abbildungscharakter des aktuellen Kunstmarktes, behände aushebelnd – die unvergleichliche Chance und Herausforderung jedes documenta-Machers: die „Welt als Wille und Vorstellung“ auch tatsächlich umsetzen zu können, und sei es nur für 100 Tage, und sei es nur in Kassel; weltweit abgehaltene Pressekonferenzen, Vorlesungen und diverse Plattformen beliebiger Größe und an beliebigem Ort dabei billigend in Kauf genommen. Ein Traum für jeden Ausstellungsmacher, und für Carolyn Christov-Bakargiev im speziellen die sichere Gewähr, ihre persönliche Welt- bzw. Kunstauffassung, einschließlich eher kunst-unspezifischer Kategorien wie Literatur, Naturwissenschaften oder Archivwesen, unter der Flagge der documenta ohne Umschweife ins Ziel steuern zu können, gekrönt von dem charmanten, offiziell verbreiteten Nebensatz, dies möge „Kunst sein oder auch nicht“.
Strahlkraft und reizvolle Facette
Daher kann es nur wenig überraschen, oder auch nicht, dass bei Hatje & Cantz in diesen Tagen gleich drei neue „Grüne Bücher“ zum Verständnis der documenta 13 erschienen sind. Die bislang erfolgreichste Variante der raren Gattung in Grün firmierender existenzphilosophischer Gesamtbetrachtungen veröffentlichte unter eben dem Titel „Das grüne Buch“ 1975 der damalige libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi, und diese sollte in den darauf folgenden Jahrzehnten für immerhin soviel Resonanz sorgen, dass 1987/88 selbst der Eishockeyverein ECD Iserlohn dafür eine Saison lang Trikotwerbung lief. Ob mit den Kasseler Huskies nun die lokalen Sportskollegen in punkto gut platzierter „Das grüne Buch“-Promotion in dessen Fußstapfen treten und auf diese Weise vielleicht erneut Sport- wie dann auch erstmals documenta-Geschichte schreiben, ist nicht bekannt – wenngleich die bislang einsame Spitzenleistung von Carolyn Christov-Bakargiev hinsichtlich medialer Präsenz und Aufmerksamkeitseffekt, insbesondere die Strahlkraft und den vielschichtigen Interpretationsfundus der eigenen Person betreffend, damit fraglos um eine weitere, besonders reizvolle Facette erweitert würde.
Das Buch der Bücher
Auch wenn es natürlich völlig abwegig wäre, der 1957 in New Jersey/USA geborenen Kunsthistorikerin, die 2008 als Leiterin der 16. Biennale of Sydney (Titel: „Revolutions – Forms That Turn“) von sich reden machte, irgendeine ideelle Nähe zum inzwischen verstorbenen libyschen Revolutionsführer zu unterstellen, so bleibt es doch ein nennenswertes Kuriosum, dass es bei beiden „grünen Büchern“ zumindest erstaunliche Parallelen gibt. Nicht nur, dass beide Ausgaben in ihrer Gesamtdarstellung als Hauptwerk dreiteilig sind. Gaddafis „Grünes Buch“ trägt zudem den Untertitel „Die dritte Universaltheorie“, wo es bei Carolyn Christov-Bakargiev, kaum weniger euphemistisch, „Das Buch der Bücher“ heißt – ein Prädikat, das bis zum Erscheinungszeitpunkt dieses 816 Seiten starken und für 68 Euro zu erwerbenden Kataloges nur mehr die Bibel (1.472 Seiten, 9 Euro) auszeichnete, möglicherweise nicht einmal zu Unrecht. Doch das, wie der Kasseläner komplexere Fragestellungen so elegant wie treffend zu umgehen weiß, „wärd sich wohl noch ußwiesen“.