Eigentlich müsste ich mich schämen: der Altmarkt, der Verkehrsknotenpunkt Kassels, mein Lieblingsplatz? Autoschlangen, Lärm, Gestank, Tag und Nacht – für den politisch korrekt denkenden Menschen ist Individualverkehr sowieso ein Graus, da kann man einem solchen Platz doch nicht auch noch öffentlich eine Liebeserklärung machen! Doch ich kann. Denn es ist der Platz, der mich in meiner Jugend am meisten fasziniert hat und dessentwegen ich stolz war auf Kassel.
Unsere Familie war 1957 aus Gudensberg nach Kassel gezogen, mein Vater hatte eine attraktive Stelle als Lehrer gefunden. Fünf Jahr alt war ich damals. Ich war ungeheuer beeindruckt von der Großstadt, genau genommen vom pulsierenden Verkehr auf den Straßen: So viele Autos, Straßenbahnen, Fahrradfahrer, Fußgänger – so viel Durcheinander, und doch schien es eine höhere Ordnung zu geben. Am Altmarkt war sie am besten zu erkennen. Im Alter zwischen fünf und 15 hatte ich natürlich keine Ahnung, dass es so etwas gab wie Städteplanung oder Verkehrspolitik, die dafür verantwortlich war. Und keine Ahnung, wie der Altmarkt vor und während des Krieges aussah. Ich war nur wie magnetisch angezogen von dem Platz, auf dem das Leben so pulsierte. Rings um die Kreuzung wuchsen die Häuser empor, ich bestaunte das neue Polizeigebäude, das 1958 fertig wurde und mir als Teil eines genialen Plans erschien, der es genau an die richtige Stelle gesetzt hatte. Gleich daneben die Brücke und die Fulda, die beide in die Ferne wiesen. Aber am meisten interessierte mich der Fahrzeugstrom – Autos, Lastwagen, Straßenbahnen.
Ich kam mit Straßenbahn oder dem Fahrrad, setzte mich an eine Ecke der Weserstraße, der Brüderstraße oder der Kurt-Schumacher-Straße, ich konnte je nach Laune die Perspektive wechseln. Als kleiner Junge fühlte ich mich dort im Zentrum der modernen Welt. Die Straßen riesig breit – zwei, stellenweise sogar drei Spuren für die Autofahrer in einer Richtung. Nach rechts konnten die Wagen sogar abbiegen, ohne anzuhalten. Die Verkehrsinseln, schwarz-weiß, wie überdimensionale dreieckige Schachbretter. Mittendrin die Straßenbahnen. Untendrunter die Fußgänger, die ihre eigenen Wege hatten, unbehelligt vom Autogewusel. Der Altmarkt kam mir vor wie das Herz Kassels, das den Verkehr so durch die Stadt pumpt, wie das echte Herz das Blut durch den Körper – in Takt gehalten durch Ampeln, die den Pulsschlag vorgeben.
Wissensdurstig und neugierig wie ich war, fand ich beim Lesen in der Hessischen Allgemeinen und anderen Blättern bald heraus, dass ich mit der Faszination für mein „Kasseler Herz“ nicht allein war. Der Altmarkt galt Anfang der 60er-Jahre als die modernste Kreuzung Deutschlands, war eine Art Denkmal für das damalige verkehrspolitische Ideal der „autogerechten Stadt“. Für Verkehrsplaner und Politiker galt das Motto: „Ab nach Kassel“. Sie bestaunten die innerstädtische Fußgängerzone, die Treppenstraße, das Parkscheiben-System und die Superkreuzung – die Experten waren vom Altmarkt genauso angetan wie ich als Kind und Jugendlicher. Das machte mich damals stolz auf meine Heimatstadt, denn sie war ein Vorbild, sie war modern, und sie stand für den Aufbruch, der als „Wirtschaftswunder“ die ganze Bundesrepublik vorantrieb. Der Altmarkt, das war die Neuzeit.
Sicher war es ein naiver Stolz, bei mir alters- und bei Kassel zeitbedingt. Aber für mein Gefühl zu diesem Platz, das jedes Mal wieder aufsteigt, wenn ich über den Altmarkt fahre, ist es egal, ob die autogerechte Stadt eine verkehrspolitische Illusion war. Der Altmarkt ist sicher nicht so schön wie Wilhelmshöhe oder der Friedrichsplatz, aber er war einmal ein aufregender Platz in Deutschland. Und deshalb mag ich ihn.
Dr. Helmut Reitze
Intendant des Hessischen Rundfunks