Als ich 1976 zum Studium nach Kassel kam, gab es die Abfahrt Wilhelmshöhe noch nicht. Über Ober- und Niederzwehren fuhr ich die Frankfurter Straße entlang bis zur Trompete, wo sich damals ein unansehnliches Parkdeck befand. Am Königsplatz konnte man noch parken, und an der Mauerstraße, wo heute die Kurfürsten Galerie steht, war damals eine Brache aus Schutt, Erde und wilden Büschen. Vor Bilka, dem heutigen SinnLeffers, befand sich meine Nahversorgung, ein Grillwagen von Kovac.
Mein Studienort AVZ in der Brückenhof-Siedlung hatte den Charme der frühen Siebziger, mit viel Sichtbeton und rot-orangenen Fensterrahmen. Die Hochschule für Bildende Künste als mein zweiter Studienort war hingegen viel schöner: Bauhausarchitektur, Nähe zur Innenstadt und trotzdem mitten im Grünen. Ich bin hängen geblieben in Kassel und habe das nie bereut. Einmal las ich, Kassel sei statistisch gesehen die durchschnittlichste Stadt Deutschlands. Kann gut sein, stört mich aber nicht.
Vielleicht wurde auch der Begriff Mittelmäßigkeit verwechselt mit dem einer gesunden Balance zwischen Arbeiten und Leben. Denn die stimmt hier. Kassel bietet den Menschen eine sehr hohe Lebensqualität, die viel zu oft als selbstverständlich betrachtet und auch unterschätzt wird. Ich möchte nicht verzichten auf das Flair der documenta, die tolle Atmosphäre und internationalen Musiker im Kulturzelt, den Bergpark im Schnee, den Einkauf in der Markthalle, die Sommerabende in Kassels Biergärten. Unsere Stadt hat viele Kleinode, man muss sie nur entdecken und nutzen. Kassel ist Liebe auf den zweiten Blick. Die hält dafür ein Leben lang.
Achim Schnyder, Leiter der Pressestelle der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände