Posthum: Kasseler Literaturpreis für Dieter Hildebrandt
Unfassbar. Eigentlich hätte er, der diesjährige Preisträger des »Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor«, ausgelobt von der Brückner-Kühner Stiftung, längst verschwunden sein müssen, natürlich nicht physisch, indes aus dem oft als oberflächlich gescholtenen öffentlichen Bewusstsein. Wurde doch der letzte unter seiner Mitwirkung produzierte „Scheibenwischer“, seit 1980 für – gemessen an heutigen medialen Halbwertzeiten – kaum fassbare 23 Jahre seine Kabarettsendung in der ARD, bereits im Oktober 2003 ausgestrahlt. Da war Dieter Hildebrandt schon 75 Jahre alt. Und dennoch brachte er noch 2013 fertig, woran selbst Mediengiganten wie das Springer-Imperium bislang scheiterten: Für sein Pay-TV/Internet-Projekt »Störsender.tv« wurden in der dafür notwendigen Crowdfunding-Kampagne, über die zur Finanzierung notwendigen 125.000 Euro hinaus, problemlos sogar noch weitere 28.000 Euro eingeworben. Wohl zu einem guten Teil basierend auf Hildebrandts klarer Ansage, weshalb er sich zuvor weiterer Fernseh-Beteiligung enthalten hatte: „Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich in jede Hose, die man ihnen hinhält, und die Privaten senden, was drin ist …“.
Dieter Hildebrandt jedoch hielt eisern an seinen Prinzipien fest – zuvorderst an der Definition von Satire als Waffe der Aufklärung, deren »Comedy«-mäßiger, mithin sinnentleerter Verflachung auf jeden Fall entgegenzutreten sei – und nahm es dafür auch billigend in Kauf, dass der „Scheibenwischer“ schließlich eingestellt wurde: Dem als seinem Nachfolger auserkorenen Mathias Richling untersagte er die weitere Verwendung des Sendungsnamens.
Wider Ignoranz und Niedertracht
Bereits mit seinen von 1973 bis 1979 im ZDF gesendeten »Notizen aus der Provinz« hatte Dieter Hildebrandt im Deutschen Fernsehen ein Kabarett-Format geschaffen, das es zuvor nicht gab, und das – zu, didaktisch gesehen, goldenen Zeiten, als es nur drei Fernsehprogramme gab – weitreichenden Widerhall in der gesamten Bevölkerung fand. Wie auch bei den jeweiligen Landesregierungen, die mehrfach den Schalter betätigten und damit die Sendungsausstrahlung in ihren (zumeist CDU-regierten) Bundesländern verhinderten – was kann einem Kabarettisten Besseres widerfahren? Unvergessen etwa jene Sendung, in der Dieter Hildebrandt aus einer – mutmaßlich in einem NS-Verfahren geäußerten – Einschätzung der Richter zitierte, die Opfer hätten schließlich nur eine Minute zu leiden gehabt. Und dann schwieg Hildebrandt. Dieter Hildebrandt schwieg einfach. Bei laufender Sendung. Und die Kamera lief weiter. Für eine geschlagene, unendlich erscheinende, die gnadenlose Brutalität von sechzig Sekunden Todeskampf auch dem letzten Ignoranten unausweichlich vermittelnde Minute. Lektionen wie diese waren es, die Dieter Hildebrandt als moralische Instanz dieses Landes verankerten. Denn er fand immer klare Worte, etwa, als er sich 1977, kurz nach der Schleyer-Entführung durch die RAF, in dem von ZEIT-Feuilleton-Chef Fritz J. Raddatz herausgegebenen Buch »Briefe zur Verteidigung der Republik«, zur medial, maßgeblich von der Springer-Presse aufgeputschten Pogromstimmung äußerte: „Sind wir wirklich immer noch so blöde, dass wir uns durch eine durchsichtige, niederträchtige, emotionsgeladene Minderheitenhatz das selbstverständliche Verständnis für den Andersdenkenden ausreden lassen?“ Welcher der heutigen Schenkelklopfer-Akteure würde sich wohl trauen, einen solchen Satz, auch nur ansatzweise, zu formulieren? Und würde er überhaupt gehört?
Ein aufrechter Neigungsdemokrat
Dieter Hildebrandt starb, nachdem er den Kasseler Preis vorab hocherfreut angenommen hatte, unerwartet am 20. November 2013. Für Mitte Februar 2014 war seine offizielle Auszeichnung in Kassel geplant. Glücklich, wer ihn hier noch während seines letzten Auftritts, am 3. März 2009 im ausverkauften Gloria-Kino, erleben durfte: „Ich muss Ihnen sagen, ich habe heute Nachmittag Fernsehen geschaut, hier in Kassel, im Hotel, und da ist tatsächlich etwas passiert, was für die Demokratie wahnsinnig wichtig ist, weil: Sie dürfen jetzt wieder – die Verfassung hat das gesagt – und Sie müssen auch, mit Ihrem eigenen Bleistift, das Kreuz machen. Weil ich dachte: Das kann man jetzt auch schon über E-Mail machen … Ich bin ein Wähler von der alten Qualität noch: Ich geh’ da selber hin. Und ich liebe das auch. Ich geh’ da sonntags hin, ich bin ein Neigungsdemokrat. Ich bin richtig aufgeregt, wenn Wahlen sind. In diesem Jahr sind 15 Wahlen. Sie müssen sich mal vorstellen, wie oft ich aufgeregt bin – aber wie wenig ich mitwählen darf! … »Kreuz«, »Urne« … so eine Art Bestattungssprache … naja, aber die Stimme ist dann ja auch weg …“