Eben war der Alltag noch bestimmt durch Arbeit. Wenn aber die Wertschätzung der Vorgesetzten, der Austausch mit den Kollegen oder einfach auch der vorgegebene Tagesablauf mit einem Schlag wegbrechen, fallen viele Menschen in ein tiefes Loch. Dabei haben sie sich vielleicht sogar auf den Ruhestand gefreut. Auch die Kinder sind meist schon aus dem Haus und mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Konflikte mit dem Partner sind in der neuen Situation ebenfalls beinahe vorprogrammiert. Julian von Hecker, Oberarzt der Schön Klinik Bad Arolsen sagt: „Bei der Generation 60 Plus spielen völlig andere Themen in der Behandlung von Depressionen eine Rolle wie bei einem Mitte 30iger.“ Die Hintergründe erläutert der Experte in einem Interview.
Jérôme: Was passiert für viele Menschen in der Lebensphase 60 Plus?
Herr von Hecker: Mit ungefähr 60 Jahren beginnt für die meisten Menschen eine neue Lebensphase, die geprägt ist von einschneidenden Veränderungen. Kaum noch von Bedeutung sind Themen wie Familiengründung und Karriereplanung. Stattdessen verändert beispielsweise die eigene Berentung oder die des Partners, die eheliche Balance und die Alltagsstruktur erheblich. Hinzu kommen möglicherweise finanzielle Einschränkungen und weniger soziale Kontakte. Manche meistern die neuen Lebensumstände spielend. Andere knicken kurz ein und arrangieren sich gut. Wieder andere rutschen in eine Depression, aus der sie ohne fremde Hilfe nicht mehr herauskommen.
Jérôme: Was sind Anzeichen für eine Depression im Alter 60 Plus?
Herr von Hecker: Depressionen ab 60 unterscheiden sich hinsichtlich der, zur Diagnose führenden Symptome nur wenig von den Depressionen in jüngeren Lebensjahren. Leitsymptome sind auch hierbei: depressive Stimmung, Freudlosigkeit und Leistungsknick. Wogegen bei jüngeren Menschen aber depressives Grübeln eine zusätzliche Rolle spielt, zeigt sich eine Depression bei älteren Menschen oft in quälenden Sorgen. Sei es um das eigene Aus – oder Fortkommen, oder um das naher Angehöriger, insbesondere der Kinder oder Enkel. Darüber hinaus verstecken sich Depressionen älterer Menschen häufig hinter den unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden. Daher sollte immer, wenn körperliche Symptome oder Schmerzen bei älteren Menschen bestehen, für die keine körperliche Ursache gefunden werden kann, an eine Depression gedacht werden.
Jérôme: Wie können eine Psychotherapie und ein Klinikaufenthalt den betroffenen Patienten helfen?
Herr von Hecker: Die antidepressive Therapie, die wir durchführen, gliedert sich in drei Schwerpunkte. Die verhaltenstherapeutische Psychotherapie als Hauptschwerpunkt. Viele ältere Menschen neigen im Zuge eines depressiven Geschehens dazu, negativ auf das eigene Leben zurück zu blicken. Hier setzt die Therapie an. Wir binden biografische Elemente in unser Therapiekonzept ein. Das heißt, wir helfen unseren Patienten dabei, die eigene Lebenslinie mit verändertem Blickwinkel wahrzunehmen und das große Potenzial zu nutzen, das in der persönlichen Lebenserfahrung liegt. In Gruppensitzungen mit ähnlich Betroffenen lernen die Patienten, die Probleme und Belastungen des Lebensalltags zu bewältigen. Auch der Umgang mit Einsamkeit zählt dazu. Die Patienten lernen ihre sozialen Netze zu erweitern und körperlich wie mental aktiv zu werden. Der zweite Schwerpunkt ist die Psychopharmakotherapie, die nach Bedarf eingesetzt wird. Der dritte Schwerpunkt ist die Sport- und Bewegungstherapie, die individuell auf die Möglichkeiten älterer Patienten zugeschnitten ist.