Hotel Reiss: Ballsaal Ade
Es gab schon viele Zitterpartien um seinen Erhalt, doch nun ist das Ende da: Der Ballsaal des »Hotel Reiss«, einer der geschichtsträchtigsten, bislang noch erhaltenen Veranstaltungsräume der Stadt, in dem einst Filmstars ihre Premieren feierten, wird endgültig abgerissen. Nach seiner Renovierung und Neueröffnung 2012 blieb der Zulauf deutlich unter den Erwartungen der Investoren und Rettungsversuche seitens der Stadt gab es nicht. Doch mit Konzerten, Partynacht und großem Orchesterball sorgte zumindest Veranstalter Markus Knierim für einen glorreichen Abschluss dieser Ära Stadtgeschichte.
Rosen für den Staatsanwalt
„Wir haben nachts noch umgebaut, von der Disko zum Kino, und dann lief morgens zunächst der Film »Rosen für den Staatsanwalt«. In Kassel gedreht, mit Martin Held und Walter Giller, hatte er 1959 ja seine Premiere in diesem Gebäude“, sagt Markus Knierim, der mit dem »Theaterstübchen« einen der beliebtesten Jazz-Blues-Clubs Deutschlands betreibt und auch den Ballsaal rund 20 Mal bespielte. „Die Filmvorführung war für mich persönlich die emotionalste aller Veranstaltungen, die wir je dort gemacht haben. Es waren sage und schreibe 470 Leute im Ballsaal, und trotz freiem Eintritt haben wir 2.000 € an Spenden für den Kinderschutzbund eingenommen.“ Von seinem Angebot, vor dem Film noch in den darüber liegenden, einstigen Kinosaal zu gehen, in dem 1969 die letzte Filmpremiere stattfand, habe fast die Hälfte der Gäste Gebrauch gemacht. „Und dann ging’s los: Da kamen die einen, die hatten in dem Film als Statisten mitgewirkt, andere haben erzählt wie das Kino früher aussah, wo die Emporen waren und der rote Samtvorhang hing, oder wo sie sich damals die Autogramme geben ließen, von berühmten Filmschauspielern wie Heinz Rühmann oder Uschi Glas …“ Viele hätten sich bei ihm bedankt, das noch einmal erleben zu dürfen, sich auf diese Weise von »ihrem«, mit so großem Erinnerungswert behafteten Kino verabschieden zu können.
Ein Bild für die Götter
„Danach haben wir den Saal sofort wieder umgebaut, und abends war dort bis Mitternacht der rauschende Abschlussball“, berichtet Knierim. „Bei dem hat das »ResiDance Orchester« dann volle sieben Sets gespielt: Walzer, Boogaloo, Tango, Cha-Cha, Rumba …“ Die Ballgäste, „im Durchschnitt um die 50 bis 60 Jahre alt“, hätten gleich von der ersten Sekunde an getanzt, „und das nicht nur auf der Tanzfläche, die hat ja nur 90 Quadratmeter, sondern überall im Saal, wo eben gerade Platz war!“ Was dem alten Showbiz-Hasen besonders imponierte: „Alle hatten sich richtig schick gemacht – mir kamen fast die Tränen … So tolle Kleider, Anzüge und Hüte … ein Bild für die Götter!“ Um das große Finale zu diesem fulminanten Ergebnis zu führen, hatte sich Markus Knierim auch selbst einiges abverlangt: „In drei Nächten bin ich zusammen auf 6 Stunden und 20 Minuten Schlaf gekommen …“ Für weitere Veranstaltungen dieser Größenordnung fehlt ihm nun, da der Ballsaal nicht mehr zur Verfügung steht, noch immer eine neue Spielstätte. „Falls es also Hausbesitzer oder Immobilienvermittler geben sollte, die wunderschöne Räumlichkeiten mit Charme anzubieten haben, wäre es großartig, wenn die sich sofort bei mir melden. Denn ich bin händeringend auf der Suche!“
Mitteldeutschlands bestes Varieté
Für die besondere Aura des Ballsaals wird es indes wohl so schnell keinen Ersatz geben, war diese doch historisch gewachsen, an geschichtsträchtiger Stelle. Denn mitsamt dem zu ihm gehörenden »Hotel Reiss« war der Veranstaltungsort auf den Fundamenten des aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammenden »Hotel Kaiserhof« erbaut worden, zu dem sowohl der »Kaisergarten« wie auch die »Kaisersäle« gehört hatten. In diesen pompös angelegten Räumlichkeiten traten ab 1900 regelmäßig bekannte Künstler auf, und das dortige Varieté-Theater, gelegen im als »Kaisertunnel« titulierten Kellergeschoss, galt zu dieser Zeit als das beste Mitteldeutschlands. 1924 gab es die ersten großen Veränderungen: Der Münchner Großgastronom Georg Reiss (1896–1974) richtete im dort ebenfalls angesiedelten »Tunnelrestaurant« eine rein bayrische Gastwirtschaft mit dem Namen »Oberbayern« ein, und 1927, nach ihrer Vermietung an das »Palast-Theater«, wurden die »Kaisersäle« zu einem 1000 Sitzplätze bietenden Kino umgewandelt.
Auferstanden aus Ruinen
Der Zerstörung Kassels im Oktober 1943 fiel auch das »Hotel Kaiserhof« zum Opfer, doch inmitten der Trümmer nahm Georg Reiss bereits 1947 den Betrieb seines »Oberbayern« wieder auf. Darüber hinaus erwarb er den Gesamtkomplex, um dort erneut eine Hotelanlage errichten zu lassen, die pünktlich zur Bundesgartenschau 1955 eröffnet wurde, entworfen von Paul Bode, dem Bruder des im gleichen Jahr die documenta begründenden Arnold Bode. Schon drei Jahre zuvor war Reiss ins Kinogeschäft eingestiegen und schließlich Herr über 50 Kinos im ganzen Bundesgebiet, darunter auch dem zum »Hotel Reiss« gehörenden Kinosaal, unter dem mit dem Ballsaal auch die »Kaisersäle« zu neuem Leben erweckt wurden. Nach dem Verkauf durch die Familie Reiss 1989 erlebten Hotel wie Ballsaal eine äußerst durchwachsene Zeit und standen ab 2003 leer, bis sich 2010 Käufer fanden, die diese Kasseler Institution zu neuer Größe führen wollen – ab nun jedoch ohne Raum für jene rauschenden Festivitäten, für die dieser Ort immer beliebt war.