Warten auf Poteau

Seit zehn Jahren ohne eigenes Haus: Das Deutsche Tapetenmuseum
Ein Museum zu leiten, das keine eigenen Räumlichkeiten hat, ist sicher keine ganz leichte Aufgabe – und vermutlich auch keine sehr befriedigende, selbst wenn man dafür großzügig alimentiert wird. Denn was fängt man an mit all seinen Schätzen, wenn man sie niemandem zeigen kann, oder wenn, dann nur temporär, und das auch noch in wechselnden Ausweichspielstätten? Dieser Herausforderung musste sich die Sammlung Volkskunde des Hessischen Landesmuseums jahrzehntelang stellen, bevor es nach dessen grundlegender Neugestaltung (2008–2016) erstmals möglich war, die Präziosen der Sammlung einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Gemessen daran, hat es die Leiterin des Deutschen Tapetenmuseums, Dr. Astrid Wegener (vormals Arnold), sicher bedeutend besser getroffen, denn sie teilt dieses Schicksal erst seit knapp acht Jahren. Schon vor ihrer Ankunft in Kassel war das bis dahin ins Hessische Landesmuseum integrierte Museum geschlossen und liegt seither wohlverpackt im Depot, als verheißungsvolles Versprechen für die Zukunft. Einer Zukunft, in der es dann hoffentlich wieder möglich sein wird, etwa – in ihrer Gesamtheit – die kostbaren Wandbeläge der 1996 von Prof. Dr. Sabine Thümmler, der Vorgängerin und vierten Leiterin des Deutschen Tapetenmuseums, für 1,3 Millionen Mark erworbenen Sammlung Bernard Poteau zu bewundern – einem Füllhorn von über 3000 französischen Tapeten aus dem Zeitraum von 1730 bis 1960, von dem Konservator für Papiertapeten in der Pariser Bibliothek Forney im Laufe von 20 Jahren zusammengetragen, entdeckt in Abbruchhäusern sowie erworben auf Auktionen und aus Sammlungen von Tapetenfabrikanten wie auch den Beständen erloschener Tapeten- und Innendekorationsfirmen.

Visualisierung des geplanten Neubaus. Foto: mhk/Harry Gugger Studio Ltd. Basel

Visualisierung des geplanten Neubaus. Foto: mhk/Harry Gugger Studio Ltd. Basel

Kunstschätze für Kassel
Sabine Thümmler, der ambitionierten Kunsthistorikerin, die das Haus von 1991 bis 2010 leitete, war im Rahmen dieser großartigen Erwerbung überdies ein ganz besonderer Coup gelungen: Verborgen im Gesamtkonvolut, nicht mit Herstellerangaben versehen und somit unsichtbar für den Zoll, konnte sie auch einige Arbeiten von Paul Balin in die Kasseler Tapetensammlung überführen, die es dort sonst nie gegeben hätte, denn die wenigen noch erhaltenen Tapeten aus der Ära des berühmten Pariser Tapetenfabrikanten zählen zu den absoluten Schmuckstücken des französischen Kunsthandwerks und dürfen normalerweise – als Kunstschätze – nicht außer Landes gebracht werden. Hergestellt mit Hilfe selbstentwickelter Prägemaschinen, waren insbesondere die von Balin aus Papier täuschend echt gefertigten Imitationen von Spitzen, Kacheln, Brokatsamt, Stickereien und Goldledertapeten weithin berühmt und wurden auf dem Markt mit Abstand am teuersten gehandelt – was jedoch auch zahlreiche Nachahmer auf den Plan rief, deren Wirken den Fabrikanten erst in den wirtschaftlichen Ruin trieb, gefolgt von seinem Freitod. Neben Balins Werken ragen aus der Sammlung Poteau insbesondere die Wandbeläge von Jean Baptiste Réveillon, die zu den schönsten und gefragtesten des 18. Jahrhunderts zählen, wie auch die raren, großformatigen Wanddekore aus der Mitte des 19. Jahrhunderts – einer Zeit, in der die französischen Tapetenhersteller weltweit tonangebend waren.

Schöner Schein
Diesen für das Museum einmaligen Zugewinn, in die Wege geleitet durch ihre Vorgängerin Prof. Dr. Sabine Thümmler, nutzte Dr. Astrid Wegener für die Gestaltung der bislang aktuellsten von ihr zur verantwortenden Ausstellung »Schöner Schein. Luxustapeten des Historismus von Paul Balin«, die vom 29. April bis zum 24. Juli 2016 in den Räumen der Neuen Galerie zu sehen war, begleitet von einem entsprechenden Katalog, mit dem versucht wurde, die Tradition der Thümmler’schen Ausstellungskataloge – darunter »Die Geschichte der Tapete – Raumkunst aus Papier«, »Goldrausch – Die Pracht der Goldledertapeten« oder »Tapetenkunst – Französische Raumgestaltung und Innendekoration von 1730–1960« – fortzuführen. Zuvor hatte Wegener mit den beiden Ausstellungen »Wandlust. Schaufenster Deutsches Tapetenmuseum« (17. Juli 2014 bis 31. Oktober 2016) sowie »Aufgerollt – Tapete. Vom Entwurf an die Wand« (13. September 2013 bis 12. Januar 2014), beide zu sehen im Westpavillon der Orangerie, ebenfalls das Banner des Deutschen Tapetenmuseums hochgehalten. Darüber hinaus gelang auch ihr ein neuer Ankauf für die Sammlung des Museums: Für 20.000 € konnte die bis dahin als Leihgabe des Essener Kunsthandels Glass bereits in den Beständen befindliche »Goldledertapete mit Granatapfelmotiv und Akanthus« erworben werden.

Mögliche Glücksfunde
Und endlich hat sich auch der Wind für die Tapetenkunst als solche gedreht: Nach den nunmehr bereits zehn vergangenen Jahren ohne eigenes Haus muss jetzt nur noch weitere fünf bis sechs Jahre gewartet werden, bis dem Deutschen Tapetenmuseum endlich wieder eine seiner Einzigartigkeit entsprechend angemessene Unterkunft zur Verfügung steht. Bis zum 100-jährigen Bestehen des Vereins Deutsches Tapetenmuseum im Jahr 2023 soll auf dem Baugrund des bisherigen Hessischen Verwaltungsgerichtshofs für 24 Millionen Euro ein neues Museum gebaut werden, für das der Verein dem Land Hessen im November 2017 die gesamte, 23.000 Exponate umfassende Sammlung des Tapetenmuseums übereignete. Darunter auch die Sammlung Poteau, von der das »Handelsblatt« im Jahr 2000 schrieb, „dass 20 Prozent der Sammlung heute noch immer nicht endgültig bestimmt sind – weitere Glücksfunde sind also möglich.“ Diesem Ansatz folgend, würde sich für Dr. Astrid Wegener damit bis 2023 ein sicher lohnendes Betätigungsfeld bieten, in Ergänzung zum in den drei Ausstellungen seit 2010 Geleisteten, für das, so die Museumsleiterin zu ihrer bisherigen Zukunftsplanung, „insgesamt rund 200 Objekte restauriert [wurden], die auch in der neuen Dauerausstellung präsentiert werden.“

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