Der Vater des Herkules

Fridericianum: Landgraf Carl in Hessen und Europa. Warum eigentlich erst jetzt, ist man geneigt zu fragen, warum wird dem Wirken Landgraf Carls von Hessen-Cassel, einem der bedeutendsten Fürsten der Barockzeit und zugleich wichtigsten Potentaten in der Geschichte Hessens, insbesondere Kassels, so spät die gebührende Referenz erwiesen?

Foto: Jan Hendrik Neumann

Foto: Jan Hendrik Neumann

Und kann es darüber hinaus überhaupt erklärbar sein, dass bei der Eröffnung dieser nun endlich doch noch realisierten Landesausstellung unter Schirmherrschaft von Ministerpräsident Volker Bouffier – entgegen allen protokollarischen Gepflogenheiten – weder der Oberbürgermeister noch die Kulturdezernentin Kassels mit entsprechenden Ansprachen eingeplant waren? Selbst die Presseinformation war mit genau einer Seite Text mehr als übersichtlich, zumal sich darin immerhin noch genug Platz fand, um den nicht wirklich als kunst- und kulturaffin geltenden, ehemaligen Innen- und nun Wissenschafts- und Kunstminister Boris Rhein sowohl Werbung für „unsere anderen bedeutenden kulturellen Einrichtungen im Land Hessen“ treiben zu lassen als auch zur Fixierung seines durchaus gewagten Urteils: „Er interessierte sich für Naturwissenschaften und Technik, neigte aber auch zum Größenwahn“, so der eher selten ob seiner analytischen Fähigkeiten gerühmte Politiker über den Initiator der seit 2013 zum UNESCO Welterbe gehörenden Anlage des Bergparks Wilhelmshöhe samt ihren Wasserspielen, die jährlich Hunderttausende von begeisterten Besuchern anlocken. Mit gespanntem Interesse darf abgewartet werden, ob Rhein mit dem in schier unglaublichen 53 Jahren Regierungsverantwortung Erreichten eines Landgraf Carl am Ende seiner eigenen politischen Laufbahn auch nur ansatzweise mithalten kann. Vermutlich eher nicht.

Ohne Carl kein Kassel
Erfreulich hingegen, dass von der nach nur 108 Tagen bereits am 1. Juli wieder endenden, erst durch das gelungene Zusammenspiel von Museumslandschaft Hessen Kassel (mhk), Hessischem Landesamt für geschichtliche Landeskunde, Philipps-Universität Marburg sowie zahlreichen Leihgebern, Förderern und Unterstützern ermöglichten Ausstellung dennoch ein donnernder Nachhall bleiben wird, in Gestalt eines prachtvollen Kataloges (624 Seiten, 843 Farbabbildungen, Hardcover, 49,95 €), mit dem auch all jene, die »Groß gedacht! Groß gemacht? – Landgraf Carl in Hessen und Europa« nicht besuchen konnten, ein umfassender Einblick in alle Schaffensphasen des Landgrafen und deren europaweite Auswirkungen ermöglicht wird. Ausgehend von den neben Bergpark, Herkules und Wasserspielen im öffentlichen Bewusstsein zumeist sofort präsenten, mit dem Namen Carls verbundenen Institutionen und Gegebenheiten, angefangen bei der Karlsaue über die Orangerie, das Marmorbad, das Ottoneum – in seiner Zeit als Kunsthaus und Collegium Carolinum –, das Karlshospital und den Kasseler Stadtteil Oberneustadt mit der Karlskirche, bis hin zur Stadt Karlshafen, werden daher nicht nur diese einer umfangreichen Würdigung unterzogen, sondern eine weitaus intensivere Auseinandersetzung mit der Person des Landgrafen in all seinen Facetten unternommen. Deshalb sind dem auf die konkrete Ausstellung bezogenen Teil des Katalogs zunächst zehn Essays vorangestellt, die kenntnis- und umfangreich dem Rechnung tragen, was Dr. Gisela Bungarten, die stellvertretende Leiterin der mhk, mit gebotener Wertschätzung in ihrem Vorwort schreibt: „Ohne Landgraf Carl würde die Stadt Kassel, wie wir sie heute kennen, nicht existieren; ohne ihn hätte die Geschichte Hessens ebenso wie Europas einen anderen Verlauf genommen; ohne ihn wären nicht nur die Museen der Stadt, sondern Sammlungen in ganz Europa um zahlreiche Preziosen ärmer.“

Wirtschaftslenkung und Leihheer
Wie zeigt man, selbst in den üppigen Räumlichkeiten des Fridericianums, ein 75 Jahre währendes Leben, das mehr als Zweidrittel Regentschaft umfasst? Denn der 30-jährige Krieg ist gerade erst kurz vorbei, das Land noch verwüstet, als Carl im August 1654 geboren wird und bereits mit 16 Jahren, zunächst noch mit seiner Mutter als Vormund, zum neuen Landgrafen aufsteigt. Drei Jahre später heiratet er eine kurfürstliche Cousine und sorgt im Laufe der Jahre dafür, dass auch die gemeinsamen 17 Kinder möglichst in einflussreiche Herrscherhäuser einheiraten – sein Sohn Friedrich wird später sogar König von Schweden. Als überzeugter Calvinist lädt er mit 31 Jahren protestantische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich zur Ansiedlung ein, so beginnt der Zuzug der in vielen Handwerksberufen versierten Hugenotten. Für eine stetige Zunahme der landgräflichen Wirtschaftsleistung sorgt Carl durch entsprechende Verordnungen und Fördermaßnahmen und die Entwicklung von Manufakturen. Ebenfalls hilfreich dabei ist seine Etablierung eines stehenden Heeres, das er für zahlreiche innereuropäische Kriege vermietet und, dafür weithin geachtet, im Kampf des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegen das Osmanische Reich einsetzt. Mit 45 Jahren unternimmt Landgraf Carl inkognito eine ausgedehnte Rundreise durch Italien, auf der er in Rom sowohl das Vorbild des späteren Herkules-Monuments entdeckt wie auch Inspirationen für die Anlage des Bergparks erhält, deren Wasserspiele der Kunst- und Architekturliebhaber zunächst noch in dreifacher Größe planen lässt. Doch das schließlich Erreichte, zu dessen Vorstufen die ihm gewidmete Ausstellung den Besucher nun mit zahlreichen erstmals öffentlich zu sehenden Exponaten einlädt, währt noch immer – höchst präsent.

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