Was Stummfilmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau in Kassel lernte
Dass es mit Thomas Stellmach und den Brüdern Christoph und Wolfgang Lauenstein Kasseler Studenten waren, die 1989 und 1997 in Hollywood Oscars für ihre filmischen Werke gewannen, ist vielen im Bewusstsein. Weit weniger bekannt ist jedoch, dass mit Friedrich Wilhelm Murnau bereits 1929, bei deren erster Verleihung, ein Sohn Kassels gleich drei dieser begehrten Trophäen erhielt, für sein in Amerika entstandenes Melodram »Sunrise« (1926/27). Zur höheren Schulausbildung ging der später weltberühmte Stummfilmregisseur in die Oberrealschule I in der Kölnischen Straße 89. Was lernte er dort?
Der hohe, lichte Festsaal der gerade fertiggestellten Oberrealschule I war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Geheimrat Dr. Karl Quiehl am 19. April 1898 seine Einweihungsrede hielt. Von Euphorie ergriffen, hob er darin insbesondere die neuen „mit der elektrischen Leitung verbundenen Projektionsapparate“ hervor. Der durch sie unterstützte Unterricht werde den Schülern „die große, unschätzbare Kunst lehren, richtige Beobachtungen zu machen und sich aufgrund derselben klare eigene Urteile zu bilden.“ Weit mehr als das würde diesen Apparaten – nunmehr Filmprojektoren – zwei Dekaden später ein junger Mann entlocken, der tags darauf seinen ersten Schultag in der gerade für rund 450.000 Mark errichteten Lehranstalt verbrachte: Friedrich Wilhelm Murnau. Erst elf Tage zuvor war er mit seiner Familie ins Erdgeschoss der fußläufig nur einige Minuten entfernten Elfbuchenstraße 4 eingezogen. Während sein älterer Bruder Heinrich bereits den Altbau der Oberrealschule besucht hatte und nun, mit den verbliebenen 16 Mitschülern seiner Unterprima, dem Abitur nahe war, stand der neunjährige Friedrich Wilhelm erst ganz am Anfang seiner höheren Schulzeit. Als einer von 40 Schülern der Sexta a wurde er sogleich besonders intensiv in Französisch unterrichtet, denn Geheimrat Dr. Quiehl legte, mit Blick auf Deutschlands zu dieser Zeit erstarkender Rolle im Welthandel, größten Wert auf „modernen neusprachlichen Unterricht“.
Edle Werke, lüsternes Treiben
Diesen, wie auch Erdkunde, erteilte in seiner Klasse Oberlehrer Dr. Bächt – zugleich der Klassenlehrer der Sexta a –, für Rechnen und Naturkunde war Oberlehrer Dr. Christ zuständig, für Religion, Deutsch und Geschichtserzählungen wie auch Turnen der Wissenschaftliche Hilfslehrer Dehnhardt sowie für Singen und Schreiben Lehrer Weissbrod. An der Decke von Murnaus Klassenzimmers prangte eine verheißungsvolle Windrose, und selbst die Wandnischen der Turnhalle waren versehen mit Sinnsprüchen wie „Wer Arm und Brust versteht zu stärken, stärk’ auch das Herz zu edlen Werken“. Zu den Themen seines ersten Schuljahres gehörte das Zerlegen der Zahlen in Primfaktoren, die „Beschreibung einheimischer Pflanzen mit deutlich erkennbaren Blütenteilen“ wie auch das Vortragen von Prosastücken und Gedichten – was ihm, der schon bald Klassenprimus wurde, offenbar so gut gelang, dass er bei der Abschlussfeier des Schuljahres am 25. März 1899 gleich als Erster auftreten durfte. Friedrich Wilhelm Murnau wählte dafür das Lied »Schönblümelein« von Robert Schumann, in dem es heißt: „Die Schmetterling und Bienen, / die Käfer hell und blank, / die mussten all’ ihm dienen / bei fröhlichem Morgensang; / und scherzten viel und küssten / das Blümlein auf den Mund, / trieben’s nach Gelüsten / wohl eine halbe Stund’.“
Begleitetes Naschen, tanzlos
Die Ordnung in dieser zweitältesten höheren Schule Kassels war rigoros und verbot ihren 550 Schülern unter anderem „den Besuch von Konditoreien ohne Begleitung und Aufsicht der Eltern“, „das zwecklose Umhertreiben in den Straßen der Stadt, besonders nach Anbruch der Dunkelheit“, „jede auffallende Kleidung“, „die Teilnahme an öffentlichen Tanzvergnügen“ und sogar „den Besuch eines anderen Theaters außer dem hiesigen Hoftheater“ – wovon Murnau daher schon bald ausgiebig Gebrauch machte und das Gesehene im Anschluss sogar zuhause nachinszenierte. Einem kurzen Wohnungswechsel in die Wilhelmshöhe 1902 folgend, kehrte er mit seiner Familie am 8. April 1905 in den heutigen Vorderen Westen zurück und bezog dort eine Wohnung in der Herkulesstraße 28, dem späteren jahrzehntelangen Standort von »Jeans am Kirchweg«. In der Zeit vor dem Abitur – längst um zahlreiche Fächer erweitert, darunter Mineralogie und Freihandzeichen – war sein Lernpensum bestimmt von Themen wie »Lebensbilder aus der deutschen Literaturgeschichte vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts«, der »Geschichte der bedeutendsten weltgeschichtlichen Ereignisse vom Auftreten deutscher Stämme bis zum dreißigjährigen Krieg« und »Sphärische Trigonometrie nebst Anwendungen auf mathematische Erdkunde«.
Expressives Gedenken zum Jubiläum
Unmittelbar nach seinem mit Auszeichnung bestandenen Abitur verließ Friedrich Wilhelm Murnau Kassel am 12. April 1907 um nach Berlin zu gehen – bevor er schließlich mit dem Horrorklassiker »Nosferatu« 1921 zu Weltruhm gelangte. Außer einer 2004 an der Fassade der Elfbuchenstraße 4 angebrachten Gedenktafel erinnert in Kassel jedoch nur wenig an einen der wichtigsten Regisseure der Stummfilmzeit, der 14 Jahre in dieser Stadt lebte, die ihn in so vielfältiger Weise prägte und die Voraussetzungen für sein späteres künstlerisches Œuvre schuf. Anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Albert-Schweitzer-Schule, die sich seit Kriegsende in dem als Oberrealschule I erbauten Gebäude befindet, hat nun mit Christel Schmieling-Burow eine Kunstpädagogin der ASS die Chance ergriffen, ihre Schüler an das Werk des großen Stummfilmkünstlers heranzuführen, der vor mehr als einem Jahrhundert in den gleichen Räumen, in denen sie heute lernen, die Basis für seine spätere Weltkarriere erhielt. Zum Einstieg machte die Studienrätin, die auch als Lehrbeauftragte im Hochschulbereich mit dem von ihr entwickelten Verfahren des Art-Coaching beziehungsweise damit verbundenen »Expressiven Selbstporträts« große Beachtung fand, ihre Schüler zunächst mit dem Film »Nosferatu« vertraut. Gefolgt von der Aufgabe, im Vergleich mit phantastisch-grauenvollen Phantasiewelten unserer Tage die Verbindungen zwischen den jeweils zugrundeliegenden Innenwelten aufzuspüren und mit künstlerischen Mitteln zu verarbeiten. Eine »Murnau-Projektwoche« ist auch schon im Gespräch.