Wider die Herrschaft der schwarzen Geländewagen

Kasseler Bürgerpreis für Prof. Dr. Jürgen Habermas

Der Umstand, dass die 23. Verleihung des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“ im Opernhaus des Kasseler Staatstheaters selbst bei strahlendem Sonntagswetter um 200 Plätze überbucht war, sprach schon für sich. Denn mit dem diesjährigen Preisträger, dem 84-jährigen Philosophen und Soziologen Prof. Dr. Jürgen Habermas, wurde eine der maßgeblichen Persönlichkeiten der jüngeren Zeitgeschichte geehrt, die sich bereits seit 60 Jahren vorzugsweise bei politischen, mithin gesellschaftlich relevanten Belangen zu Wort meldet und längst weltweite Rezeption erfährt. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Habermas vor allem durch seine Professur an der Universität Frankfurt bekannt, wo er, in der Nachfolge von Adorno und Horkheimer, die „Kritische Theorie“ der „Frankfurter Schule“ repräsentierte und die Studentenbewegung von 1967/68 stark beeinflusste, deren Entwicklung er indes zugleich kritisch kommentierte.

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In Händen das von Karl Oskar Blase geschaffene „Glas der Vernunft“: Preisträger Prof. Dr. Jürgen Habermas, eingerahmt von Prof. Dr. Hansjörg Melchior (links), Vorstand der Freunde und Förderer des Kasseler Bürgerpreises, und OB Bertram Hilgen (rechts). Foto: Mario Zgoll

Ehrenretter der politischen Kultur
In dem im „Deutschen Herbst“ 1977 auf Initiative des ZEIT-Feuilleton-Chefs Fritz J. Raddatz von zahlreichen prominenten Autoren verfassten Buch „Briefe zur Verteidigung der Republik“ schrieb Jürgen Habermas, die ersten zweieinhalb Nachkriegsjahrzehnte seien „eine Periode gewesen, in der es in Deutschland zum ersten Mal gelungen ist, die ohnehin verstümmelte und immer wieder verdrängte Tradition der Aufklärung von Lessing bis Marx in ganzer Breite zur Geltung zu bringen, das heißt zum Medium geistiger Produktivität und zum Anknüpfungspunkt des politischen Selbstverständnisses zu machen. Ein Augenblick Jugendrevolte war dann genug, um Jahre der Reaktion einzuleiten“, den gewählten Buchtitel erklärend: „Das soll heißen: Wir werden für die Positionen der Aufklärung in unserem Lande kämpfen.“ Dass dieser Kampf aktuell andauert, wurde dem Preisträger nun von seinem Laudator, dem F.A.Z.-Feuilleton-Chef Nils Minkmar bestätigt, der dessen jüngst im SPIEGEL erschienene, äußerst kritische Analyse der Politik Angela Merkels als „Ehrenrettung unserer politischen Kultur“ bezeichnete. Minkmar weiter: „Wir brauchen also Jürgen Habermas, seine einzigartige weltweite Reputation, sein Engagement, seinen Fleiß und seine Begriffe, um nicht ins Gewöhnliche einer Technokratie im Interesse der Reichen, einer Herrschaft der schwarzen Geländewagen zurückzusinken.“

Brücken schlagen zur Verständigung
„Wie kann man es erreichen, dass die Menschen mit dem Blick nach vorne in die Zukunft gehen und nicht mit dem Blick in die Vergangenheit gerichtet?“, fragte der israelische Botschafter a.D. Avi Primor in seiner Festrede „Quo vadis, Europa?“, zugleich ein glühendes Plädoyer für eben dieses Europa, dessen „schildkrötengleichen“ Einigungsprozess er voller Optimismus verfolge, überschattet allein von einer Sorge: „Wenn die Bevölkerung diesen Prozess nicht wahrnimmt, daran glaubt, damit verbunden ist, versteht, dass es um ihr eigenes Leben, um ihr Wohlergehen geht, dann wird diese Union nicht wirklich gefestigt sein. Und das sind genau die Dinge, die Professor Habermas uns predigt: die Aufklärung, die Erziehung.“ Unter dessen Einfluss habe er nach seinem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst daher in der Universität von Tel Aviv ein Zentrum für Europäische Studien gegründet, das heute, mittlerweile trilateral, in Zusammenarbeit mit einer palästinensischen Universität und dem Wissenschaftszentrum Jordaniens betrieben werde. Denn neben der Aufklärung gehe es ebenso darum, Brücken zu schlagen und zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, als Fundament der Verständigung. Auch dies mache die Lehre von Jürgen Habermas aus.

Lob der freien Bürgerschaft
Der Preisträger selbst bekannte sich zunächst als documenta-Freund der ersten Stunde, bis ihm bei Catherine Davids documenta 10 von 1997 schließlich „das nachlassende Vibrieren der Membrane für das Zeitgenössische“ zum Bewusstsein gekommen sei. Dem Namen seiner mit 10.000 Euro dotierten Auszeichnung, dem „Glas der Vernunft“, bescheinigte er „semantisches Oszillieren“ und Aufklärung bedeute für ihn vor allem, „wie wir uns selbst im Lichte neuer Tatsachen, neuer Erkenntnisse besser verstehen lernen oder was ein verändertes Wissen von der Welt für uns, in unserer Lebenswelt bedeutet.“ Nur dieses klassische Verständnis von Aufklärung könne „eine Mentalität stärken, von der auch das politische Leben einer freien Bürgerschaft zehrt.“ Sein Schlusssatz, gefolgt von donnerndem Applaus: „Von einer lebendigen Demokratie – und dieser Bürgerpreis zeugt ja von bewundernswertem zivilgesellschaftlichem Engagement – würde ohne solche Impulse, die aus der Bürgerschaft selber kommen, im besten Fall eine erkaltete, rechtsstaatliche Fassade übrig bleiben.“

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