Wie bereits in der Frühsommerausgabe von Jérôme skizziert, stand Carolyn Christov-Bakargiev, die künstlerische Leiterin der seit 1955 dreizehnten in Kassel veranstalteten documenta, bei deren Vorbereitung wie auch Umsetzung vor einer gewaltigen Herausforderung. Denn wie schafft man es, in einer Welt, in der, dank medialer Übersättigung, selbst explodierenden Atomkraftwerken nur noch ein temporär sehr begrenzter Aufmerksamkeitswert zuteil wird, ständig im Gespräch zu bleiben, Besucherströme im Hunderttausendermaß zu generieren – und das mit einem so indifferenten und diffusen Thema wie Kunst? Das insbesondere von Mitbewerbern und deren Protagonisten regelmäßig in Zweifel gezogene Prädikat „wichtigste Kunstausstellung unserer Zeit“ reicht da schon lange nicht mehr – und die Latte wird alle fünf Jahre erhöht.
Lernen von Britney Spears
Gefragt war also ein geschicktes Spiel mit den Medien, bei dem CCB hoch gepokert – und gewonnen hat. Allein die Zeitschrift ART, die bei vorangegangenen Ausstellungen stets vorab exklusive Zugangsrechte hatte, gelungen hinzuhalten („Fast keinen dieser Künstler durften wir kennen, diese documenta-Leitung ist so schweigsam wie keine zuvor“ – ART-Chefredakteur Tim Sommer), was in der Konsequenz dann sogar zur erstmaligen Veröffentlichung eines nachgereichten documenta-Sonderheftes führte, war schon ein kleines Husarenstück. Auch die kalkulierten Irritationen um das „Wahlrecht für Erdbeeren“ bescherten der Ausstellungsmacherin Schlagzeilen quer durch den Blätterwald, ließen sie – als „Lady Gaga“ tituliert – zum Pop-Star aufsteigen. Und sich mit der katholischen Kirche anzulegen, deren Kunstbeitrag, der, eher den „Himmelsstürmer“ statisch variierend denn selbst wegweisend zu sein, sonst möglicherweise glatt übersehen worden wäre – ein genialer Schachzug. Spätestens die Pop-Sängerin Britney Spears hat es schließlich vorgemacht, wie man spielend auf die erste Seite kommt, auch wenn das neue Album noch auf sich warten lässt. Man muss sich ja nicht immer gleich schlüpferlos fotografien lassen oder den Schädel scheren. Was bei CCB auch möglicherweise nicht funktioniert hätte.
Da stellen wir einfach mal was dazu
Offensichtlich funktioniert hat indes ihr gewagtes Konzept der Einbeziehung des gesamten Stadtraums (und weit darüber hinaus) als documenta-Spielfläche, die damit verbundene Zerschlagung jedes geplanten Kunst-Kurzausfluges, den man bequem an einem Tag abhaken kann, wie auch die systematische Unterminierung nahezu aller traditionellen Erwartungshaltungen im Zusammenhang mit der Ausstellung: Die heiligen vorderen Räume des Fridericianums, das eigentliche Entrée zur documenta, quasi unbespielt, leer; fast schlimmer noch der Platz vor dem Fridericianum, nur von inoffiziellen Gästen bespielt, frei nach dem Motto: „Da stellen wir einfach mal was dazu …“, wie etwa geschehen mit den „Wächtern der Zeit“ des Linzer Künstlers Manfred Kielnhofer. Eigentlich ein Sakrileg. Und zugleich im engen Kontext mit der Kühnheit zu sehen, das neue Herz der Neuen Galerie, den abschließenden Raum des Obergeschosses, komplett der modernen musikalischen Umsetzung der Volkslied-Verheißung „Die Gedanken sind frei“ zu widmen, mit frei wählbaren Freiheitsliedern, per quietschbunter Wurlitzer-Musikbox.
Entzerrt durch breite Streuung
Ob Schrottberg, ob Nichts-tu-Hügel, ob Mangold-Kahn: Man muss das nicht alles mögen. Man muss das nicht alles verstehen, oder gar verstehen wollen. Hauptsache, es weckt die Neugier. Hauptsache, es funktioniert, irgendwie. Insbesondere natürlich in wirtschaftlicher Hinsicht, wenngleich der ideelle Aspekt, von Inspiration bis Aufklärung, sicher ebenso schwer wiegt. Die bislang veröffentlichten Besucherzahlen – darunter nicht zu vergessen der singuläre, aber ungemein medienwirksame Besuch von Star-Schauspieler Brad Pitt – künden jedoch schon vom voraussichtlichen Erreichen der letzten documenta-Rekordmarke von 750.000, zumindest. Und wenn in einem über weite Strecken verregneten Sommer selbst die Gastronomie den Daumen nach oben hält, so ist dies sicher ebenfalls ein deutlicher Gradmesser, wie Anna Homm, Geschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbandes DEHOGA Hessen, Kreisverband Kassel Stadt und Landkreis, bestätigen kann: „Die über eine so große Fläche verteilten documenta-Standorte haben zu einer spürbaren Entzerrung geführt, denn dieses Mal profitieren weit mehr unserer Mitglieder als bei jeder documenta zuvor. Insbesondere die Betriebe ohne Außengastronomie sind bislang mehr als zufrieden.“ Sie selbst sagt: „Für mich ist dies die schönste documenta seit ewigen Zeiten. Allein die Karlsaue, das Leben dort, die Stimmung – einfach traumhaft.“ Bleibt zu hoffen, das Carolyn Christov-Bakargiev in der Folge die Früchte ihres positiven Wirkens in und für Kassel ernten kann. Es muss ja nicht gleich die Leitung des Metropolitan Museum of Art sein. Das Guggenheim tut’s auch.