Wenn nach den berühmten 100 Tagen die bedeutendste Kunstausstellung der Welt, die documenta, zu Ende geht, besteht in Nordhessen trotzdem kein Grund zur Trauer. Denn zum einen konnten wir mit der dOCUMENTA (13) eine beeindruckende und konzeptionell gut durchdachte Schau mit dem ihr eigenen internationalen Flirren in der Stadt erleben, die bei vielen noch lange nachwirken wird. Zum anderen aber eröffnet im September das Staatstheater Kassel die Saison mit sechs Premieren in zwei Wochen. Und verdeutlicht uns, stellvertretend für viele andere Kulturinstitutionen, vor allem eines: Kassel war und ist immer eine Stadt der Kultur. Nur drei Beispiele: In Kassel ist das älteste Kulturorchester Deutschlands beheimatet, es existiert seit mehr als einem halben Jahrtausend. Das Fridericianum ist das älteste Museumsgebäude auf dem europäischen Festland, das Ottoneum seit 1605 das älteste feststehende Theatergebäude nördlich der Alpen.
Über den geldwerten Nutzen von Kultur als Standortvorteil ist viel gesprochen und geschrieben worden. Erlauben Sie mir als Intendant des Staatstheaters eine andere Perspektive: Nicht darüber, dass aus jedem Euro, den unsere Träger Stadt und Land dem Theater zur Verfügung stellen, 1,42 Euro wieder in die Stadt und Region zurückfließen – wie eine Studie der Universität Kassel 2011 ergab – möchte ich heute sprechen. Sondern über die Frage nach dem ‚guten‘ Leben soll hier nachgedacht werden, wenn von Kultur die Rede ist. Was verleiht unserem Leben Sinn, Glanz, Würde, Eleganz? Was verleiht einem Gemeinwesen Sinn, Stärke, Integrität, Offenheit, Zukunftsfähigkeit? Und was einem Augenblick jene Größe, die dann, aufs Ganze gesehen, ein gutes Leben ausmacht? Im Theater werden diese Fragen allabendlich vor Ihren Augen verhandelt. Es ist der Ort, den einst die Griechen der Antike zu genau dem Zweck erfunden haben: Ein Ort, an dem ein Gemeinwesen seine zentralen Konflikte zuspitzt, sie aus den verschiedensten Blickwinkeln und aus der sicheren Distanz der Zuschauerränge betrachtet und so die eigenen Gefährdungen und Abgründe durchspielt. Theater ist wohl deshalb eine im besten Sinne demokratische Kunstform, weil es keinen Erzähler gibt, der uns die „Wahrheit“ des Gesagten verbürgt. Nein, wir müssen selbst entscheiden, welche Figur die besseren Gründe hat. Es bleibt Ihnen als Zuschauern, den mündigen und wachen Bürgern des Gemeinwesens vorbehalten, Ihre eigene Position im Widerstreit der Meinungen herauszubilden.
Wir möchten Ihnen im Opernhaus zur Eröffnung den Tanzabend ORPHEUS vorstellen, der von einer großen Utopie erzählt, von einem Leben frei von Zwängen und Mühen, und dessen Musik von einem der weltweit bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten stammt, Hans Werner Henze. Begleitet wird dieser Abend durch unser Staatsorchester unter Leitung unseres Generalmusikdirektors Patrik Ringborg.
Im Schauspiel möchten wir Sie mit einer Komödie begrüßen, die gleichwohl schmerzhaft und sehr modern den großen Fragen der Liebe nachgeht: AMPHITRYON von Heinrich von Kleist. Das Stück über die Selbstbehauptung von Außenseitern in einer gewinnorientierten Gesellschaft aus der Feder des vielleicht größten Theaterautors aller Zeiten, William Shakespeare, DER KAUFMANN VON VENEDIG, verwoben mit seinem Traum von WAS IHR WOLLT folgt kurz darauf.
In der Oper eröffnen wir mit der einzigen Oper Ludwig van Beethovens, FIDELIO, die aufs Schönste die Forderung nach Gerechtigkeit mit einer Utopie der Liebe vereint. Womit nur die vier ersten von insgesamt fast 30 Premieren der neuen Saison am Staatstheater Kassel erwähnt sind.
Freuen Sie sich mit uns auch auf den 1100. Geburtstag Kassels, auf unsere auch zwischen den documenta-Jahren weltbekannten Museen und auf die Spielzeit 2012/2013 in Ihrem Staatstheater. Wir leben in einer kulturell reichen Gegend dieser Welt!
Mit herzlichen Grüßen
Thomas Bockelmann
Intendant des Staatstheaters Kassel