Wir genießen den Moment, etwas Neues in den Händen zu halten und zu entdecken. Vorsichtig öffnen wir die Verpackung, bevor wir das neue Smartphone zum ersten Mal einschalten, das neue Kleidungsstück anprobieren oder das neue Küchengerät zum Einsatz bringen. Auf die meisten Menschen üben neue Produkte einen großen Reiz aus, den wir mit leidenschaftlicher Freude oder auch schlechtem Gewissen versuchen zu stillen. Unsere Lust auf Neues lässt uns aber auch ständig neue Erfahrungen machen, im Kleinen wie im Großen. Uns lockt der Besuch eines neueröffneten Lokals mit kulinarischen Erwartungen genauso wie die Reise an einen für uns neuen Ort. Dem neuen Film mit einer bewunderten Schauspielerin fiebern wir ebenso entgegen wie dem neuen Song unserer Lieblingsband oder dem neuen Roman des geschätzten Schriftstellers.
Das Neue offenbart sich in unterschiedlichen Gestalten. Wo wir etwas Neues erwarten, begegnen uns manchmal alte Bekannte. Gerade in der Musik freuen wir uns, diese wieder zu treffen. Vertraute Melodien können wir mitsummen und fühlen uns darin geborgen. Musik kann uns eine Heimat bieten, selbst wenn wir uns weit weg davon befinden. Deshalb mögen wir bekannte Musik im Ohr, wenn wir uns auf neue Wege begeben, sei es beim Joggen oder im Flugzeug. Wenn wir Musik aber aus dem Hintergrund unseres Alltags in den Vordergrund unserer Wahrnehmung treten lassen, wird uns die Lust auf Neues ebenso packen können wie das neue Produkt, was auch immer es uns verspricht.
Plötzlich entdecken wir Neues auch im scheinbar Bekannten. Wie klingt die Musik Wolfgang Amadé Mozarts und Franz Schuberts, wenn sie nicht in einem Konzertsaal zu hören ist, sondern einem Ausstellungsgebäude wie der documenta-Halle? Verändert sich meine Wahrnehmung, wenn ich davor ein neues Werk gehört habe, das erst in diesem Jahr komponiert wurde? Diese besondere, vielleicht für manche neue Erfahrung ermöglichen die Kasseler Musiktage in diesem Herbst. Im Mittelpunkt steht der österreichische Komponist Johannes Maria Staud, der mit der Musik vergangener Jahrhunderte sehr vertraut ist und gerade dadurch etwas Neues schafft, das sich in der zeitgenössischen Musik viel zu oft nicht aufs Publikum überträgt: Humor, Fasslichkeit und Freude am Musizieren. Staud hat dies bereits mehrmals bewiesen, indem zum Beispiel in seinen Opern Ohrwürmer wie in einem Musical auftauchen, ohne dass die Vermischung der Stile erklärtes Ziel ist.
Ohrwürmer erklingen einmal mehr in der documenta-Halle, wenn klassische Kammermusiker wie eine Popband einheizen. Bereits vor zwei Jahren hat Spark, die klassische Band, die Aula der Heinrich-Schütz-Schule zum Toben gebracht, nun kehrt sie mit einem unerwarteten Partner nach Kassel zurück, um – versprochen – etwas Neues zu präsentieren: Einer der weltweit gefragtesten Countertenöre, Valer Sabadus, singt außer barocken Arien auch Songs von Depeche Mode und Rammstein, begleitet vom Spark-Sound, der seit Gründung der Band vor über zehn Jahren etwas völlig Neues hören lässt. Dass das Neue auch mehrere Jahrhunderte alt sein kann, beweisen die jungen Musiker des Cölner Barockorchesters. Noch viel mehr Neues, auch im Bekannten, gibt es vom 24. Oktober bis 3. November bei den Kasseler Musiktagen zu entdecken. Seien Sie herzlich willkommen und folgen Sie Ihrer Lust auf Neues!
Olaf A. Schmitt
Künstlerischer Leiter der Kasseler Musiktage