Das ist ein schöner Song von Chris Rea, der in der Adventszeit oft im Radio läuft. Über zwanzig Jahre lebte ich im Ruhrgebiet; am ersten Weihnachtsfeiertag fuhr ich immer nach Hause, nach Kassel (na ja, nach Vellmar, wohin meine Eltern inzwischen gezogen waren). Chris Rea singt davon, wie glücklich er ist, an Weihnachten nach Hause fahren zu können. An einer Ampel guckt er zum Fahrer des Wagens nebenan: Dem geht’s genauso. Und ich ziehe eine Metaebene ein: An einer der Ampeln auf der B1 in der Dortmunder Innenstadt gucke ich zum Fahrer des Wagens neben mir, der hört den gleichen Song und singt mit. (Diese Ampeln wurden früher bespöttelt als die einzigen zwischen Rotterdam und der Mauer. Die Mauer steht längst nicht mehr, doch die Ampeln gibt’s immer noch; jetzt sind es vermutlich die einzigen zwischen Rotterdam und dem Ural.)
In Warburg oder Breuna abzufahren und über die B7 nach Vellmar zu kommen, wäre erheblich kürzer, doch ich fuhr immer bis Wilhelmshöhe, die schöne Adenauerstraße entlang, um den atemberaubenden Blick auf das Lichtermeer im Kasseler Becken zu genießen, wenn man die Druseltalstraße hinunterfährt, dann den Weinberg hoch, auf dem Steinweg zwischen Staatstheater und Fridericianum hindurch, beide angestrahlt, und ich war wieder zu Hause. Der erste Abend gehörte den Eltern, am zweiten Feiertag stand immer der Besuch bei Klaus Becker in seiner mit Büchern vollgestopften Wohnung auf dem Programm, erst über den Garagen hinter dem SPD-Haus in der Humboldtstraße, später in der Hupfeldstraße, und ich verwandelte mich wieder in den Schüler, der ergriffen zum Mentor aufschaut und seinen Einlassungen über das Weltgeschehen lauscht oder seinen herrlichen Indiskretionen über Kasseler Interna, die er nicht mal im Estra Tip bringen konnte (betrunken aus Festivitäten herausgetragene OBs und dergleichen).
Abends Besuch bei alten Freunden, wo immer noch der Joint rumging, an dem ich dann auch mal zog. Oder wir guckten uns Dias von früher an, als ich mit einem Kumpel auf dem Rothenberg hauste, die Nachbarn beschwerten sich, bei uns wären sonntags immer Nackte durchs nicht mit Stores verhüllte Küchenfenster zu sehen. Tatsächlich machten wir viel Party, und das Mädel, das gegen Sonntagmittag als erste in die Küche tapste, um Kaffee aufzusetzen, hatte oft nichts an. Die kleine Trudi, heute Frau Dr. Gertrud, schaffte es irgendwann, die Kaffeemaschine zur Explosion zu bringen, und wir flogen raus. Mein Gott, über dreißig Jahre ist das her. Ach, Heimat.
Jetzt lebe ich seit fünf Jahren wieder hier, und mir fehlt es an nichts – außer, an Weihnachten nach Hause fahren zu können.
Volker Schnell
Autor von „Mordhessen“ und „Der schlaue Pate“