„Die Menschen sind so umwerfend nett, wenn sie einen nicht gerade entführen“
Zu einem äußerst spannenden Besuch lädt das Kasseler Museum für Sepulkralkultur mit der noch bis zum 4. Mai 2014 gezeigten Ausstellung „Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht“ ein. Dafür hat der Ausstellungskurator, Journalist und Fotograf Tobias Wenzel – auf eigene Kosten, mit einem selbst erarbeiteten Budget in Höhe von 70.000 Euro – im Laufe von vier Jahren auf der ganzen Welt 72 teils sehr prominente Schriftsteller besucht und diese auf einem Friedhof ihrer Wahl interviewt. Dabei herausgekommen sind sehr anregende Gespräche über Leben und Tod, die der Besucher vor den ebenfalls dort aufgenommenen, großformatigen Porträtfotografien per Audio Guide abrufen kann. Wollte man alleine die Interviews aller in Kassel präsentierten 28 Friedhofsgänge abhören – sie wurden zum Teil bereits über Deutschlandradio Kultur gesendet – wäre man bereits anderthalb Stunden beschäftigt. Doch das erwartet Tobias Wenzel gar nicht.
Ungetaktete Interviews
Jeder solle lieber seine ganz private Auswahl treffen, für die Autoren wie etwa der Nobelpreis-Anwärter Cees Nooteboom, Paul Auster-Gattin Siri Hustvedt, Cornelia Funke, T. C. Boyle, Ilja Trojanow, Jussi Adler-Olsen, Margaret Atwood, Annie Proulx, Donna Leon oder Jonathan Franzen zur Verfügung stehen. „Vielleicht entdeckt man dabei ja auch einen neuen Schriftsteller, den man vorher noch nicht kannte“, sagt Tobias Wenzel, dem die Idee zu seinem idealistischen Projekt kam, nachdem er ein Interview mit einem isländischen Schriftsteller aus Lärmgründen kurzfristig von einem Café auf den gegenüberliegenden Friedhof verlagert hatte. „Wir waren beide davon überrascht, wie gut man sich da unterhalten kann und dass es schön ist, auch mal zu schweigen.“ Aus seiner Praxis als Rundfunkjournalist war er zuvor, insbesondere bei prominenten Interviewpartnern, eher den unerfreulichen Halbstundentakt im Hotelzimmer gewohnt, „und das ist weder für den Journalisten befriedigend noch für den Schriftsteller.“
Leichter vom Diesseits ins Jenseits
Bei der Auswahl für sein Projekt habe er zunächst nach Autoren gesucht, die sich intensiver mit dem Tod befassen, „wie etwa Claudia Funke, von der ich wusste, dass ihr Mann gestorben war und dass sie das Thema Tod sehr interessiert, dass sie gerade auch Kindern gern den Tod erklärt.“ Neben der Präferenz für seine persönlichen Vorlieben habe er überdies bald gemerkt, dass es von Nutzen sein könne, auch bei Schriftstellern anzufragen, die man selbst eher weniger lese, „etwa aus den Bereichen Horror oder Thriller. Mir ist aufgefallen, dass diese Leute den Schritt vom Diesseits ins Jenseits sehr viel leichter machen, und offensichtlich spiegelt das auch die Meinung der Autoren selbst wieder.“ Claudia Funke habe auf dem Friedhof gesagt: „Selbstverständlich gibt es eine Wiedergeburt, das ist für mich so eindeutig!“ Wenzel: „Da stand ich richtig baff, weil ich vorher dachte: Diese Autoren sind doch bestimmt alle Atheisten.“
Drei Tage mit Annie Proulx
Aber auch sein „romantisch verklärter Blick auf den Friedhof, den deutschen Friedhof, der ja oft sehr ruhig ist“ habe sich schnell geändert. In Kolumbien etwa habe er mit einem Autoren einen Friedhof besucht, der sich zwischen einem Flughafen und einem Golfplatz befindet, „und manchmal, bei schlechten Spielern und schlechter Wetterlage, fallen da Golfbälle auf die Gräber. Insofern passiert immer irgendetwas auf dem Friedhof, was einen dann inspiriert und wo man völlig unvorbereitet reagieren muss“. Die Reaktion vieler für sein Projekt angefragter Autoren sei sehr überraschend gewesen. So habe ihm T. C. Boyle auf seinen handschriftlichen Brief hin ebenso handschriftlich und sogar auf Deutsch zurückgeschrieben: „Lieber Tobias Wenzel, das machen wir!“ und Annie Proulx sei es gar volle drei Tage wert gewesen, sich mit ihm zu treffen. „Die hat in den letzten 20 oder 30 Jahren vorher keinem deutschen Hörfunkjournalisten ein Interview gegeben.“ Aber auch die Absagen seien sehr spannend, die in der Ausstellung ebenfalls abgerufen werden können. O-Ton Nadine Gordimer: „Ganz sicher nicht! Darauf können Sie Gift nehmen. Friedhöfe sind widerliche Orte!“
Zum Schutz kein Foto
Trotz des in jeder Hinsicht beträchtlichen Einsatzes für seine Ausstellung, von der Museumsleiter Prof. Dr. Reiner Sörries sagt, sie werde „in ganz besonderer Weise dem Charakter und dem Wollen dieses Museums gerecht“, fällt dabei derzeit noch nicht viel Ruhm für Tobias Wenzel ab. Doch auch das hat einen selbst gewählten Grund: Er ziehe für ein Jahr nach Kolumbien, um dort als Journalist zu arbeiten, „denn die Menschen dort sind so umwerfend nett, wenn sie einen nicht gerade entführen“. Zu seinem Schutz habe er zumindest insofern Vorkehrungen getroffen, dass es im Internet kein einziges Foto von ihm gebe, „da habe ich penibel drauf geachtet. Zum Glück gibt es ein paar andere Tobias Wenzel – einer ist übrigens Bestatter …“
Das Buch zur Ausstellung: Tobias Wenzel / Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht.
Friedhofsgänge mit Schriftstellern.
Mit einem Vorwort von Jussi Adler-Olsen.
Knesebeck Verlag. 224 Seiten, 73 Fotografien. 29,95 Euro