Eine heimliche Biennale

Impressionen vom 7. Kasseler Atelierrundgang: Wie die Erfahrung lehrt, begegnet man nicht allzu oft jemandem, dem Begrifflichkeiten wie „rabulistisch“ so federleicht von der Zunge gehen und der auch darüber hinaus mit bestechender Eloquenz in der Lage ist, seine Besucher für Stunden in den Bann zu ziehen, bei geradezu soghaften Gesprächen über das Leben, die Lage der Nation und die der Kunst im Besonderen, einschließlich dezidierter, mitunter nachhaltig provokant gesetzter Positionen.

Klangkunst und Performance: Axel Kretschmer mit einem seiner selbstentworfenen Instrumente. Foto: Jan Hendrik NeumannIn Ralf Scherfoses »RealismusAtelier«, gelegen am Fuße des Schlangenwegs, muss man indes jederzeit damit rechnen, denn hier gilt: Der die traditionellen Maltechniken seit seinem Freie Kunst/Malerei-Studium an der Kunsthochschule Kassel, insbesondere bei Prof. Manfred Bluth (1926–2002), meisterhaft beherrschende Maler, dessen Werk von einfühlsamen Porträt- und Landschaftsstudien wie auch Stillleben bis hin zu verstörenden Bilderzyklen zum Frontgeschehen im Ersten Weltkrieg und den brennenden Städten des Zweiten Weltkriegs reicht, gibt dem Small Talk keine Chance – und das ist gut so, das ist sogar sehr gut, und unwillkürlich wünscht man sich auch in Kassel eine Institution herbei, wie vielleicht jenen seit den frühen 60ern bundesweit gleich mehrfach ins Leben gerufenen »Club Voltaire«, in dem derartigen Zusammentreffen, getragen vom feurigen Streben nach Erkenntnisgewinn, bei offenem Ergebnis, zumindest ein gewisses Maß an Wahrscheinlichkeit zufiele.

So bleibt es vorerst das Verdienst des »Kasseler Atelierrundgangs«, im zweijährigen Rhythmus für immerhin ein ganzes Wochenende täglich acht Stunden lang Begegnungen zu ermöglichen, die in ihrer vom Drang zum Vernissagenwein eher unberührten Intensität den Bedeutungshorizont verrücken und damit merklich über dem Level üblicher Ausstellungseröffnungen liegen können.

Das Substanzielle sichtbar machen
Ein weiterer der 80 im gesamten Stadtgebiet wirkenden Künstler, die den Stand ihrer aktuellen Arbeiten beim »Kasseler Atelierrundgang« einer bedeutsam erweiterten Öffentlichkeit vorstellen dürfen – unterstützt durch Plakate, Flyer, einen 100-seitigen Katalog, eine Website sowie eine für mobile Geräte konzipierte App – ist Eugen Wolf. An der Kasseler Kunsthochschule im Bereich Freie Kunst ausgebildet, ist der in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere als Bildhauer in Erscheinung getretene Künstler, der mit seinem dortigen Atelier gefühlte Ewigkeiten zum inhärenten Erscheinungsbild der mittlerweile demolierten Kulturfabrik Salzmann gehörte und nun bereits seit fünf Jahren die komfortablen Räumlichkeiten des Hinterhauses Wilhelmshöher Allee 34 bespielt, dieses Mal überraschend auch mit Zeichnungen präsent: wild, expressiv, vielschichtig und großformatig – natürlich großformatig, das Substantielle sichtbar machend, nur kein Klein-Klein. Das Hauptinteresse der zahlreichen Besucher, die an diesem Tag bewusstseinserweiternd und ungemäßigt phonreich mit Werken von Frank Zappa beschallt werden, gilt wohl dennoch eher Wolfs Objekten, „die sich einer achtungsvollen Nutzung nicht verschließen“, wie es Eckhard Wörner, ehemaliger Pressesprecher der Kasseler Sparkasse, einst wohlwollend umschrieb – und damit doch nur zart andeutete, welche gestalterische Wucht sich etwa hinter den urwüchsig-massiven, jeweils unikaten Tischen verbirgt, deren offene Spalten der Künstler bei ihrem Erschaffungsvorgang mit flüssigem Metall verschließt. Kassels Ex-OB Bertram Hilgen, davon mehr als nur angetan, ließ sich von Eugen Wolf dergestalt seinen Amtstisch anfertigen, beachtenswert: auf eigene Kosten. Weder selbige noch Mühen hat auch der Künstler gespart, in seiner Rolle als Gastgeber beim »Rundgang«: Neben Strömen von Sekt gibt es überdies noch Brot, Käse und erlesene Ahle Worscht, „vom »Weissenstein« im Königstor – ein echter Geheimtipp!“

Gasmaske + Bierdose = Wohlklang
Ein Geheimnis wird auch im Atelier von Eberhard Fiebig im Königstor 2 gelüftet: Reklamiert der lange emeritierte Metall-Professor der Kunsthochschule dort doch mit seiner Schrift »Die Geschichte vom doppelten Rotulus, erzählt dem Kunstwerkesammler Peter Ruppert« – und einer entsprechenden Maschine – die Urheberschaft der ersten Plastik aus dem 3-D Drucker, geschaffen bereits Ende der 90er Jahre, „in einem additiven Herstellungsverfahren, das einst Rapid Prototyping genannt wurde.“ Er und seine Mitarbeiter, so Fiebig, seien „an der Entwicklung der Grundlagen für den 3-D Druck von Beginn an beteiligt und springen nicht auf einen schon fahrenden Zug auf.“ Techniken ganz anderer Art zeigt Axel Kretschmer, der als Arbeitsschwerpunkte „Klangkunst, Performance, Objekte, Bilder“ angibt, in seinem Atelier in der Gräfestraße 13, etwa mit einer virtuosen Darbietung auf einem selbstgebauten Instrument aus Bierdose und Gasmaske, die ihm sogleich geradezu frenetischen Applaus einbringt. „Da gab es schon Veranstaltungen, wo Leute aus verschiedenen Gründen kurz davor waren, den Krankenwagen zu rufen …“, vermerkt der Künstler mit einem kurz aufflackernden Anflug von Genugtuung. Zu schade nur, dass selbst zwei ganze Tage nicht ausreichen, um auch wirklich allen an dieser heimlichen Biennale beteiligten Künstlern die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie mit diesem Einsatz, der so manche offizielle Ausstellung spielend in den Schatten stellt, mehr als verdienen.

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